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Budapest
Am Neujahrstag stand jemand am Bahnhof einer Kleinstadt.
Die Weihnachtszeit, die zurückliegenden sentimentalen
Tagen konnte er sich nun einmal nicht vorstellen für seine
Absicht, loszureisen, um Fuß zu fassen in einem fremden
Land; wenn alle mit Geschenkeeinkaufen und
Familieneinladungen ihren Kopf verdreht und verrenkt
hatten. Noch dazu in einer Weltstadt dieses anderen
Landes, wo sich diese Metropole befand, welches sein Ziel
darstellte, eines nämlich, das ihm besonders familien- und
hundelieb vorkam. Es passte heutzutage nicht mehr
zusammen, an Weihnachten an fremde Tore zu pochen. Auch
nicht bei einer Verwandten, seiner Tante, beabsichtigte er
Einlass zu erbitten, die ihm als seine vorläufige
Anlaufstelle dienen sollte, von wo aus er nur die Telefone
so erklingeln lassen wollte, um eine Wohnung ergattern zu
können, kurzum von dort aus er sich den Ausgangspunkt
seiner neuen Existenz dachte. So wie er dastand dort, halt
in seiner Aufmachung, wie man so sagt, seinem
Erscheinungsbild nach, läuft vielleicht ein Mönch vom
vorletzten Jahrtausend herum! Weit gefehlt, dass man
daraus aber den Schluss ziehen konnte, dass sich darin das
Verhältnis zu seinem eigenen Körper wiederspiegelte. Mag
man in Südafrika durchschnittlich nur einskommafünf Jeans
besitzen, wie eine Statistik behauptet, so passen diese
eine und halbe Hose wenigstens auf dem Leib und betonen
das Schöne des Körpers, so dass es eine wahre Pracht ist,
junge Männer anzuschauen, welche es vergönnt ist, sie
tragen zu dürfen. Nein, an seinem Aussehen tut sich eher
das Verhältnis seiner Umwelt zu seinem Körper kund als
seines selbst, worauf er keinerlei Anrecht zu haben
scheint, alles anderes als ein freies
Selbstbestimmungsrecht besitzt.Seine Hosen waren von
seiner Mutter ausgesucht, meist Jeans, aber keine
Markenjeans. Es muss sich beileibe nicht um Blue Jeans 501
handeln. Weder um diese Zahl, noch um diese Farbe. So
eitel ist er nun nicht. Aber diejenigen, die er am Leib
trägt, betonen alles andere als seine Figur. Nun, wie
wirkt wohl eine Jeans, die erdbraun ist und die statt
eines saloppen Reißverschlusses Metallknöpfe besitzt? Die
auch von dem in ihm Drinsteckenden beim Kauf nicht
anprobiert worden ist? Sie sind viel zu weit und hängen
überdimensional schlotternd an den Oberschenkeln weg.
Zudem noch sein Hemd, das man sich nur anschauen musste,
welches auch zu groß ist, ist ihm zwangsweise vom Vater
übertragen worden, obwohl dieser selbst um einige Nummern
kleiner als der Sohn ist, daran liegend, dass der Vater
meist im Freien sommers wie winters arbeitete, und da
konnte es ja nicht warm genug sein. Nicht genug, dass sie
zu weit ist, sie ist darüber hinaus auch deswegen sehr
schwer. Es ist ein ausrangiertes Hemd, ein paar Mal schon
zusammengeflickt, mit Modedesign aus dem letzten Krieg.
Seine Erinnerungsfähigkeit reichte nicht einmal mehr bis
dahin, wann er sich je selbst eins ausgesucht hatte. Die
von seiner Mutter aus den diversen Altenheimen
zusammengeklaubten Hemden und Hosen tun’s ja schließlich
auch, so deren Einstellung, zumindest erfüllen seinen
Zweck. Durch das Bahnhofsareal zog ein eisiger, zugiger
Wind, der die Holzüberdachungen bedrohlich zum Wanken
brachte. Hier wird auch alles ziemlich marode, dachte er,
unübersehbar, ins Auge stechend, so nur konnte es ein
Fremder wahrnehmen. Nur die Automaten sind auf dem
neuesten Stand, immerhin, und dies gleich digitalisiert.
Aber zum Glück reißen sie diese aus früheren Zeiten
stammenden Anlagen wie Unterführungsüberbau noch nicht ab,
dachte er als Einheimischer. Ansonsten machen’s ja alles
kurz und klein, was ihnen unter die Finger kommt, wer?, na
den lebenden Zeitgenossen nämlich. Bald würde er sich
darüber nicht mehr ärgern müssen, vergessen könnende die
stets schwelende Wunde, dass alles, aber auch wirklich
alles neumodischer, steriler und abstoßender
Funktionalität weichen musste. Er hatte noch Zeit, rauchte
seine erste Zigarette, trank aus seiner ersten Kaffeetasse
- neurotisch süchtig nach Koffein und Nikotin, wobei er
die Ursache eigentlich kannte, wenngleich völlig wehrlos
dagegen war, Langeweile- und Ödegefühle - als er um die
Ecke kommen sieht jemanden, der eine Thermosflasche in der
Hand hielt, durch die Tür der Toilette ging und darin das
Wasser zum Rauschen brachte, wie man wohl bald
eindringlich, wenn auch gedämpft gut durch die
Toilettenwände würde zu hören bekommen. In dieser
Voraussichtlichkeit aller Dinge und Geschehnisse, die die
Menschen um ihn herum in Bewegung setzten, wie bei
sprichwörtlichen Gewohnheitstieren, lag auch ein Umstand
seines desolaten Zustandes. Sein Cousin war es, der im
Winter kein Wasser hatte, dafür öffentliche
Bedürfnisanstalten in Anspruch nehmen musste. Das Ergebnis
einer merkwürdigen, für kleinstädtische Verhältnisse
möglicherweise unüblichen Biographie. Mit einer
Holländerin verheiratet gewesen, stand bereits der
Hundertachtzigtausend DM teuere Bauplatz, als diese nicht
mehr wollte und zurückwanderte, woher sie kam. Daraufhin
wollte Manfred auch nicht mehr. Was? Na, den
kleinstädtischen Lebensvorstellungen entsprechen
natürlich. „Ich lass mich doch nicht ausbeuten!“, womit er
wohl die Bedingungen an seinem Arbeitsplatz meinte, gesagt
und getan, dass er die bislang aufgebauten
Lebenszusammenhänge radikal abbrach. So einem Menschen
blüht eben das Schicksal, dass er im Winter mit seiner
Thermosflasche in der Bahnhofstoilette steht und das
eisigkalte Wasser aufrauschen lässt, so dass es durch das
enge, kleine Fenster herausrauscht und den ganzen
Kleinstadtbahnhof erfüllt, wohl weil die Rohrleitungen
seiner bescheidenen Unterkunft selbst, einer städtischen
Obdachlosensiedlung, wieder einmal zugefroren sind. Recht
besehen, klingt das vielleicht dramatischer als es in
Wahrheit ist. Denn die öffentlichen Toiletten hierzulande
stinken ja kaum, - außer vielleicht unmittelbar nach
verrichteter Dinge der intimen Geschäftemacherei - sind
alles in allem sauber gehalten und haben fließend kaltes,
oft auch warmes Wasser. Zumindest wenn man es so
betrachtet, dass das dreckigste deutsche Klosett noch
sauberer als das sauberste in irgendeinem anderem Land auf
der Welt ist, kann es so menschenunwürdig tragisch kaum
sein. Oder? Keiner, der so denkt, überlegt er, wird
beispielsweise von einem Strafvollzug hierzulande sprechen
können, eher von einem Männergenesungswerk ob der in
diesen Gemäuern zur Verfügung gestellten Luxusgegenstände
wie Fernseher, Zentralheizung und Kanalisation - und nicht
die mindeste Spur von Mitleid für einen sogenannten
Obdachlosen empfinden, wobei dieser Freiherumlaufende
allerdings beschissener dran ist als der Eingekerkerte.
Insofern wird bei demjenigen die härteste Strafe
vollzogen, der sich nicht anpassen und einfügen will,
schlimmer noch wie bei einem sogenannten Verbrecher gleich
welcher Ausprägung. Diese Gesellschaft, wie man sagt,
besser diese Menschen hier - wie er sie satt hatte! Er
nuckelte an seiner Zigarette.
Nach oben!
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