Anfrage>pentzw@web.de Impressum |
Satiren1. April - auf bayerisch (Realsatire) (1990) Da kommen Zeiten, wo Witze zum Verbrechen werden. "Ich muß mich vereidigen lassen!" (Als Lehrer!) Die Mutter hörte einen Moment auf zu spülen, wandte sich mir zu. "Ja, worauf denn?" "Aufs kommunistische Manifest!" "Du gehörst doch sofort angezeigt", drohte sie. Ich mußte also dafür unterschreiben, daß ich hinter der freiheitlich-demokratischen und so weiter stand. Als ich dies Schriftstück erhielt, unterschrieb ich es: Es war zufällig ein 1. April!? *
Ein Sternchen! Ein Sternchen als Trennungszeichen auf der Tafel!? - Ich hatte im Unterricht auf die Tafel anstatt eines klaren, eindeutigen, mit einem dynamischen Junglehrer-Handbewegung auszuführenden Trennungsstrich einen Stern gezeichnet. Der Rektor der Schule hatte dabei meinen Unterricht besucht gehabt. Nunmehr empfing er mich in seinem Zimmer mit den denkwürdigen Worten: "Was haben Sie sich dabei gedacht?" Ich hatte ja jedesmal das Gefühl, bei einer ungeheuer wichtigen Sache die Ehre zu haben, beiwohnen zu dürfen, wenn ich diesen Rektor dort so sitzen sah: Metzgerartig hatte er seine Hemdsärmel hochgekrempelt, wozu die dicken Oberarme in den Muskeln spielten, die Äderchen auf der Stirn im angespannten Gesicht hervorquollen und die Striche um seinen Mund nervös hin- und herspielten, als wollten sie augenblicklich vor Anspannung und Verantwortung reißen. Ein Frosch, der vor Wichtigkeit zum Zerreißen aufgepumpt war. (Er hätte gut das Bild eines "Kindermetzgers" wiedergespiegelt, wenn es dieses Berufsbild gegeben hätte.) Aber es war jedesmal enttäuschend. - "Was haben Sie sich nur dabei gedacht?", empfing er mich. - Heute weiß ich auch nur mehr, daß ich ihn nicht überzeugen konnte. Ich kann mich aber noch an die Pausen erinnern, die unseren zaghaften Dialog so dehnten, daß ich das Gespräch als einen wahren Mammut-Gerichtsprozeß in Erinnerung habe. Diese merkwürdigen Pausen? - Fast glaube ich, den Rektor ging es gar nicht um den Stern als Trennungszeichen! Nur worum dann? Die Pausen erschienen mir umso peinlicher, als der Rektor nach Alkohol roch; na ja, zumindest ihm schon sein vorabendliches Saufgelage im zerknirschten Gesicht gezeichnet stand. Gut, um nicht gar so selbstgerecht zu klingen, räume ich ein, daß es vielleicht auch an meinem Unterricht, der eventuell ein miserabler hätte sein können, gelegen haben mochte. Aber ich glaube es nicht! Es mußte an etwas anderem liegen. Wie konnte ich nur!? -"Was glaubt Ihr, was ist wohl am gesündesten: Keinen Alkohol zu trinken oder dauernd? Überlegt mal scharf, bevor ihr antwortet!" Die Schüler, gar nicht dumm und weltunerfahren, zweifeln: Alkohol zu trinken bereitet Spaß, ist jedoch gefährlich; und wer glaubt dieses Ammenmärchen wirklich: was Spaß macht, ist auch gesundheitsschädigend? Kindern gegenüber - ich jetzt Kindermetzger! - die zweifelhafte Einstellung eines mir bekannten Chefs eines Gesundheitsamts publik zu machen - dies war schon ein gefährliches pädagogisches Mittel! "Was sagt Ihr aber dazu: Ein befreundeter Arzt meinte: Weder die totalen Abstinenzler, noch die reinen Alkoholiker sind die Gesunden, sondern diejenigen, die am Tag ein, zwei Bier trinken!" Immerhin war die Reaktion der Kinder impulsiv. Dem Rektor hing eine Haartolle vor den Augen, die er wieder mal nervös nach oben strich. Möglich ja, daß der Rektor kein Alkoholiker war - vielleicht roch er auch wegen des Parfüms so penetrant. Tatsache war, daß er doch ganz schön Bier soff, selbst in der Gegenwart seiner Referendare - sagte ich nicht schon, Kindermetzger! Wenigstens wußte ich, daß ich keinen Alkohol soff. Deswegen war ich so frei, die extremen Standpunkte versöhnen zu wollen, indem ich des Staatsmedizinmannes weisen Worte wiedergab. Im Gegensatz zu diesen Erwachsenen hier hielten die Kinder stattdessen nicht mit ihren Alkoholerfahrungen hinterm Berg. Diese Freimütigkeit wollte ich nur nutzen, was ja zu einer lebendigen Diskussion führte. Was wollte der Pädagoge nur von mir hören, wenn er unser Zwiegespräch einfach nicht weiterführte oder nicht endlich beendete - stattdessen immer wieder dieses Schweigen entstehen ließ? Letztendlich - "vergessen wir den Alkohol", sagte er pädagogisch-versöhnlich - hing er sich an diesem Stern auf. "Warum einen Stern, warum? Sagen Sie mir dies mal!" Ich schwieg, denn mir fehlten ehrlich die Worte. Ich konnte es ihm nicht erklären. - Ich gestehe, es handelt sich hier wohl um einen menschlichen Fehler von mir, gegenüber Personen, wo ich das Gefühl habe, sie könnten mich nicht verstehen, stets in der Hinsicht zu versagen, daß ich einfach verstumme und stattdessen über die Sinnfrage meines vergeblichen Unterfangens nachgrüble. Ich bin mir aber sicher, daß der gute Staatsdiener zufrieden gewesen wäre, wenn ich anstelle eines Sterns Hammer und Sichel oder ein Hakenkreuz gemalt hätte, denn dann hätte er ja gewußt, woran er bei mir war - aber einen Stern!? Auch keinen roten Stern, sondern einen unschuldserheischenden weißen Stern!? - was nun einmal höchst verdächtig war! Irgendwie machte dieser Vorfall auch unter den Schülern die Runde. Denn einen Tag darauf offenbarte mir ein Mädchen des Rätsels Lösung: Bei Todesanzeigen stünde auch immer ein Stern zwischen... ich weiß nicht mehr, wo sie meinte, jedoch bestimmt nicht zwischen Absätzen, Zwischenräumen oder Trennungen. Ich glaube, sie meinte, daß der Stern eben die Geburt eines Menschen markiere. Vielleicht war es ein freudscher Verzeichner meinerseits, daß ich den Tod eines Menschen meinte, nur wessen Tod? Den des Rektors vielleicht - alles erflehend? Ein Teil der Lehrerschaft saß im alten Lehrerzimmer, das für Raucher. Der Referendar hielt sich dort auch die meiste Zeit auf, seitdem ihm wegen seiner Degradierung weniger Unterricht, aber dafür um so mehr Freistunden abzusitzen aufgeordert worden war. Der Grund des Verweilens dort in dieser Ecke war weniger sein Hang zur Nikotinsucht als vielmehr dem Umstand zuzuschreiben, daß sich hier öfter auch sympathischere Lehrer einfanden. Wiewohl in fast allen deutschen Schulen, entsprach auch hier die gewohnheitsmäßig eingenommene Entfernung des Lehreraufenthalts zum Direktorat seiner Stellung in der Hierarchie der Schule: je weiter weg, desto schlechter angesehen; oder anders herum, demonstrierte dies seine mehr oder minder absichtsvolle Distanzierung zum Boß der Institution. Man darf sich freilich nicht einbilden, daß diese informelle Hierarchisierung im Bewußtsein der Lehrerschaft hier wach gewesen wäre. Keine noch so zweideutige Bemerkung hätte diese soziale Tatsache offengelegt. Jede diesbezügliche Anspielung wäre nämlich auch von allen Lehrern als Sakrilegsbruch mißbilligt worden. Hier herrschte von Haus aus noch ein Zustand natürlicher Ordnung gottgewollter himmlischer Herrschaft. Am Vormittag fand sich das Oberhaupt in dieser Nische des Schulhauses ein. Der Rektor nahm Platz. "Ah, der Chef!", sagten einige ehrerbietig, bezeugten die ersten Weihen dem fürstlichen Gast. - Immer diese erblichen Führertypen, die mich sofort provozierten und herausforderten: bist Du denn wirklich so gut, für wie man Dich hält? Außerhalb des Lehrerzimmers waren gerade Handwerker zu Gange, wobei einer sich hinter dem Bauwagen von Zeit zu Zeit mit einem Schluck Bier zum Arbeiten motivierte. Das hatte gerade nun der Rektor wahrgenommen, und er deutete mit dem gesalbten Finger auf diesen, zum Entzücken aller anderen hier. Dann blickte der Rektor befriedigt zu ihm hin; alle daher auch: Dort saß also der schlechte Schüler in der Ecke und machte seine von oben zwangsverfügten Fleißarbeiten. Befriedigung hätte sich wie ruhiger, schleimiger Brei ausbreiten können. Tatsächlich entstand währenddessen Schweigen. Zum Schweigen blickte ich aber trotzig zurück: Ja, ich bin die Folge des niedergeschlagenen Deutschlands: Trinke Cola und gern; ab und an kaue ich auch einen Gummi (widerlich!), obwohl's Magengeschwüre geben soll; rauche, wenn auch nicht in Ketten, so doch mit Genuß und pflege nicht die bayrisch-deutschen Kulturbräuche: Blasmusik - stattdessen Gitarre zu spielen und amerikanischen Freejazz zu hören; auch nicht in einer Reihe zu marschieren - gegensätzlicherweise für mich spazierenzugehen. Also ich war das Gewicht dieses immer noch vorhandenen Schweigens, das sich, wie bereits angedeutet, bedrückend auszubreiten drohte. Warum wohl? Wenn ihr auch so tut, als sei hier in der Mitte Europas die Wiege dessen, was die Menschen in Jahrhunderten zu ihrer höchsten Stufe gebracht hat, was ihr nichtsdestotrotz inhaltlich schon gar nicht mehr wißt, weil Goethe, Schiller usw. wegen Unrentabilität nicht studiert, so spielt ihr dennoch nur noch eine Statistenrolle im Welttheater, treffend bewiesen dadurch, daß ihr in Eueren Kindern den zu tilgenden amerikanischen Virus auszutreiben versucht. Stille entstand mittlerweile, diesmal peinliche - als hätten sie gehört, was ich versteckt dachte, weil mich gar nicht getraut, bewußt zu denken. Ich war also der Mittelpunkt dieser Stille. Was immer ich tat, wurde von Blicken verfolgt: Zwei Widerstandsmöglichkeiten besaß ich dabei. Blickte ich zurück, so mußte ich mich als etwas, was Schuld hatte, sehen: Denn einmal würde ich diesen musternden Blicken nicht mehr standhalten können und fragen, was los sei? Diese Reaktion eröffnete dann freilich meine Gerichtsverhandlung: Alles, was sie mir sagen würden, würde gegen mich gerichtet sein; alles, was ich erwiderte, würde aus einer Verteidigungshaltung heraus erfolgen. Aber dieses Spiel hatte man schon vor 50 Jahren ausgereizt. Man räumte mir den "Freiheitlichen Raum" ein, so ziemlich alles tun zu dürfen, wonach ich begehrte. So ergoß ich mich in Handlungen, die rein egoistisch die Umwelt mißachtend, nur nicht diese verfolgenden Blicke gewahrend, in einem hektischen Narzißmus enden: zum Tratschgegenstand der anderen. Ich hatte absolute Narrenfreiheit. Diese nutzte ich auch weidlich. Eine Lehrerin kommt ins Lehrerzimmer, frühmorgens um neun. Ich frage sie: "Kommen sie gerade oder gehen Sie wieder?" Sie hat wohl nicht ganz ihren Ohren getraut, weil sie anschließend sofort um Hilfe beim Rektor nachsuchte. Aber jetzt schlug der Kindermetzger richtig zu. Folge, diesmal aber kurzer Prozeß: "Sie bringen mir ganz schön meine Lehrerschaft durcheinander. Kommen Sie mit in mein Büro! Ich gebe Ihnen eine letzte Chance! Wenn dies noch einmal passiert, dann melde ich es oben bei der Regierung, damit wir uns verstanden haben!" Zur absolut strikt einzuhaltenden Pausenendaufsicht über die Schüler verdonnert! Wegen dreier Minuten Pausenendaufsicht zweimal in der Woche zwanzig Kilometer in die Schule hierherzufahren, dies war mir eigentlich etwas ökonomisch-ökologisch betrachtet irrwitzig erschienen. Na ja, vielleicht konnte ich eine Vertretung für diese jeweils 3 Minuten finden. Vergebens! So fuhr ich jeden Mittwoch diensteifrig zur Endaufsicht der Pause, wo solche Jugendliche beaufsichtigt werden mußten, die aus der Pause in ihr Klassenzimmer gingen und immerhin schon mindestens 16 Jahre waren. Ein Kollege fragt mich hämisch: "Kommen Sie gerade oder gehen Sie schon wieder?" Wie lange braucht man, um ihm gegenüber sagen zu können: Ich bin gerade dabei zu gehen oder ich komme gerade? Etwas später, als ich schon am abgesägten Ast saß, holt mich der Rektor von meiner von ihm verordneten Passivität aus dem Lehrerzimmer, mir das Nichtbestehen der II. Staatsprüfung mitzuteilen und schweigt betreten an meiner Seite, denn: "Was machen Sie jetzt?; und pädagogisch: "Jetzt schmeißen Sie fei nicht gleich die Flinte ins Korn!" "Ich denke ja nicht im mindesten daran. Schließlich krieg ich ja bis zum Ende des Referendariats weiterhin Geld". Ihm verschlägt's die Stimme ob dieser "rotzfrechen" Erwiderung. Im selben Atemzug bitte ich ihn, mich für die schriftliche Prüfung bei der Regierung abzumelden: Wozu noch eine Prüfung machen, die unnötig war? Der Rektor schluckt laut, denkt: "Ein Faulenzer", was hätte er auch schon anderes denken können? Ich beeile mich zu begründen: "Statt der Prüfung kann unsereins doch Pausenendaufsicht machen!" Die Kunde, was im tiefsten Bayern droht, dringt schon vorher in die Universitätssäle. Aufgeräumt kommt eine Kommilitonin in die Bibliothek gelaufen: Leute unseres Studiengangs würden als Linksradikale diskriminiert. Ich lache daraufhin, indem ich äußere: "Was juckt's, was andere erleben und sagen: Ich bin kein Linksradikaler, ich bin schließlich ich." Bayern ist groß, denke ich, und außerdem gibt es ja noch Einsatzorte für die Referendare, die sich nicht in dem Teil Bayern befinden, woher diese Schreckensbotenschaften kommen. Das ständige Hin- und Herüberlegen, ob oder nicht ins Referendariat zu gehen! Freilich, wenn man soundsolange aus eigener Tasche studiert hat, steht einem schließlich die Trockenheit der Armut bis zum Hals. Also, komme was da wolle! Es kam der bayerische Kongo, Niederbayern! Nach oben! Die Referendare meines Studienzweigs haben als erste Lehrprobe, schließlich hat das Vergeben schlechter Noten Signalwirkung auf die nachfolgenden anderen Studiengänge, und es ist ja schon klar, daß die Sozialpädagogen, die Lehrer mit dieser Fachrichtung innerhalb der beruflichen Fächer neben Metall, Holz oder Hauswirtschaft, längst nicht mehr gebraucht werden. Nachdem ich höchstens ein halbes Dutzend Mal vor einer Klasse gestanden bin, die erste Lehrprobe schon. Wie ein Tafelbild aufgebaut werden soll, weiß ich immerhin theoretisch. Der Tag meiner ersten Lehramtsprobe; Lehrprobe, das Herzstück der Lehrerausbildung. In dieser Probe zeigt sich, ob der Referendar ein Lehrer ist. Von Natur aus ein eher begrifflich-abstrakter Lerntyp, habe ich diese Schiefertafel im Abstand von 10 Zentimetern höchstens 10 Mal in meinem Leben berührt. Aber ich bin sehr gut vorbereitet, nämlich das Tafelbild soll ein Kreis werden, eingeteilt in 8 Sektoren, welche mit den von den Schülern zu findenden Kategorien, womit sich ein gutes Erziehervorbild kennzeichne, ausgefüllt werden sollen. Es klappt anfänglich ganz gut. Die Schüler sind mir wohlgesonnen und lassen mich nicht leerlaufen, so daß die Antworten prompt kommen. Ab der 3. Kategorie dessen, was gutes Vorbild sei, verdrehe ich den Kopf nach unten, um den Begriff von unterhalb der Tafel nach oberhalb in die unteren Sektoren einzutragen. Die ganze Schülerschaft verrenkt wie auf Kommando ihre Köpfe gegen ihre Schulbänke, um die Buchstaben in der richtigen Reihenfolge aufzufassen. - Allein schon dieses Bild wäre fernsehsatirereif gewesen. Doch kommt es noch toller! Da manch ein Schüler nicht so schnell mitschreiben kann, wie ich in meiner Unterrichtsplanung zufolge voranschreite, muß das am unterm Rand der Tafel Hingeschriebene gut sichtbar hochgehalten werden. Damit reiche ich jedoch nicht mehr mit meiner Körpergröße bis zum oberen Tafelrand, so daß ich praktischerweise einen Stuhl zuhilfe nehme. Da ich jedoch nicht ständig vom Stuhl runter- und raufspringen will, um, gemäß des fixierten Zeitplans mit dem Unterrichtsstoff fertigzuwerden, richte ich vom Stuhl aus wie ein erhöhter Dirigent meine Fragen und Impulse an die Klasse. Besser kann kein Satiriker einen blöden Lehrer darstellen. Note 6! "Die Schlimmsten sind doch die LKW-Fahrer. Sie sind die Gefährlichsten, verursachen die meisten Unfälle. Ist ja auch logisch: haben keine Zeit, stehen unter Druck, ihre Lieferung fristgerecht abzuliefern und dann passiert's halt!", hatte der Bauer, mein Leiter im Deutschseminar, getönt. Es hatte über Nacht geschneit, und die Temperatur war unter Null gesunken. So saß ich in meinem Gebrauchtwagen aus den Fünfzigern und hielt den Fuß vor Kälte gefroren auf dem Gaspedal. Ich haßte mittlerweile meinen ehemals geliebten VW-Käfer, da ich, zweimal die Woche 500 Kilometer herunterreißend, mich danach wie gerädert fühlte. Allein schon das Thema für meinen Unterricht heute: Sind nur die Jungen die Raser? - als ob dieses Vorurteil nur ein vernünftig denkender Mensch ernsthaft diskutieren wollte. Was man in einer Kneipe am Stammtisch disputierte, paßte aber auch gut in ein bayerisches Klassenzimmer. Das Thema wurde mir einfach vom Seminarleiter diktatorisch vorgelegt mit der Begründung: "Dieses Thema zu bearbeiten, brauchen wir. Wer möchte es freiwillig machen (sic!) Keiner, also machen Sie's freiwillig, Herr Sowieso!" Der Zynismus wurde nicht einmal verheimlicht, da die diesem Staat aufgezwungene Demokratie doch bloß wert war, von ihm als ein verhöhnenswertes Spiel dargestellt zu werden. Wenn er hörte, was ich jetzt gedacht hatte, einen amerikanischen Soziologismus: Gesellschaft. Was immer ich sagte, jener Bauer ging regelmäßig dabei in die Höhe. Und ich in die Tiefe. Ich duckte den Kopf, um unter der angelaufenen Scheibe auf die rollende Fahrbahn durchzublicken. 'Gemeinschaft', muß dies doch hierzulande heißen. Obwohl das Gebläse des alten Vehikels der schneidenden, eindringenden Luft nur stellenweise Paroli bieten konnte, wurde mir heiß. Die Krawatte um den Hals schnürte mir zudem die Luft ab. Ich lockerte sie und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Die Hektik war also insgesamt arg, da die heutige Stunde bei diesem Seminarlehrer abgehalten werden mußte, wofür ich noch dazu eine seminarinterne Note erhalten würde. Ich kam ins Schleudern. Der LKW hinter mir hupte, brummte jedoch nicht auf, da er genügend Abstand eingehalten hatte. Unverdrossen hielt ich mein Tempo bei. So kam ich erneut ins Schleudern, wobei ich auf die zweite Spur drehte. Der Trucker hinter mir rauschte laut hupend vorbei. Ich dachte, Glück gehabt. In diesem Moment fuhr mir aber ein anderer VW-Käfer hinein. Die Vorderseite meines Autos hatte Totalschaden; der in mich Hineingefahrene gleichfalls. 'Endlich bin ich diese alte Karosserie los', dachte ich erleichtert durch die laut von mehreren Seiten auf mich einplärrenden Stimmen. "Dabei werden immer die LKW-Fahrer als Raser beschuldigt! Da sieht man's mal wieder!", plärrte der LKW-Fahrer. Dem stand jetzt die Stimme meines Seminarleiters entgegen: "An den vielen Autounfällen sind meist die LKW-Fahrer schuld. Sind im Streß, ihre Güter möglichst schnell zu transportieren - und dann passiert's halt." Der Trucker-Fahrer hatte mir aus der Seele gesprochen, und ich das Vorurteil meines Seminarleiters widerlegt. Wie stolz ich darauf war, inmitten der totalgeschädigten Autos hier, dessen schuldiger Verursacher ja ich war, ihn widerlegt zu haben. "Wie heißen Sie?", plärrt mich der LKW-Fahrer an. Ich stottere meinen Namen heraus. Er fragt zurück, ob ich mit B oder P gesprochen werde. Ich sage einfach: "Wie Mercedes Benz halt!", weil's leichter zu merken ist. "Haben Sie überhaupt einen Führerschein? Los zeigen Sie mir ihn mal her!", macht mich dieser Menschen ungehalten an. Er sieht sich meinen Namen in den amtlichen Papieren an und plärrt mich an: "Aber sie werden doch mit hartem P geschrieben. Können Sie nicht mal mehr ihren eigenen Namen richtig buchstabieren?" Ich hatte keine Zeit, so schnell's ging, mietete ich ein Leasingauto und fuhr zum Seminar, um noch meine Deutschstunde zu halten mit dem Thema: Sind nur die Jungen die Raser? Nach oben! Der Seminarvorstand, ein alter und offenbar besonders geeigneter Lehrer für die Junglehrer, sozusagen ein vorbildhafter Pädagoge, doziert. "Als ich das erste Mal in die Klasse kam, da war ich von Kollegen vorgewarnt: Du wirst es schwer haben mit dieser Klasse!" Er war also gerade wieder einmal dabei, das Spiel des Lehrers als Held zu spielen, wobei ihn die Junglehrer bewundernd anhimmeln. Der alte Gockel davorn dreht sich nicht nur um seine eigene Achse. Er weiß nur zu genau, daß die Junglehrer den falschen Eindruck gewinnen, ständig von meist einzelnen Schülern einer Klasse unter Druck gesetzt zu werden, so daß der Drang des zweifelhaften pädagogischen Mittels, einen für alle zu bestrafen, ständig virulent ist. Er weiß außerdem noch genau, daß Junglehrer noch die Neigung zu allzu großer Nachgiebigkeit aufweisen. "Und da war so ein Schüler, ganz frech und vorlaut, prahlte noch mit seinen aus den Hosentaschen hängenden, großen Scheinen, was für einen reichen Vater er habe... Aber dem hab ich's dann gezeigt: Die Schelle vergißt er sein Lebtag nicht." Es lebe die Unbestechlichkeit des Lehrers hierzulande, aber nur in Sachen Geld noch, gell! Ein Aufatmen geht durch die Junglehrerschaft, die sich aber sofort wieder zu kurzen Atemzügen senkt, denn... "Zwei Wochen, das dürft ihr mir glauben, hab ich gebibbert und gezittert. Aber was war? Der Vater des jungen Rotzlöffel hat sich später noch bei mir persönlich bedankt!" Die Junglehrerschaft freut sich aufgeräumt. Ich bin froh, als das Pausenzeichen erklingt. Immer nur die Rädelsführer! Genau das gleiche Schauerstück passiert, als ich einmal in einer Schulklasse der Unterstufe hospitiere. Der Lehrer, kein Wunder, weil ehemals Bereitschaftspolizist, beginnt übergangslos wie ein Polizeipräsident vor seiner versammelten Mannschaft loszuhetzen: "Man muß sie packen, die Aufwiegler; man muß auf sogenannten DEMOS die Rädelsführer herausgreifen und hinter Schloß und Riegel bringen! Diese Rädelsführer!" Ein Schüler ist zufällig in dieser Klasse, vorbestraft wegen Landfriedensbruchs, wegen des politischen Tatbestands, gewalttätig Widerstand gegen eine vermeintlich die Menschheit bedrohende neue Technologie, die Atomkraft, geleistet zu haben. Er malt einen roten Stern in sein Schulheft, der dumme Schuljunge, der dumme. Der Rektor, Sozialkundelehrer, nimmt ihm das Heft ab. Nach dem Bestehen der Mittleren Reife bewirbt er sich an einer Fachschule. Eigentlich besitzt er die notwendigen Voraussetzungen; außer dem Reifezeugnis hat er zuvor auch noch eine untergeordnete Fachschule besucht. Die Schulen bauen aufeinander auf. Der alte Rektor ruft die Schulleiterin an, eine Diplom-Pädagogin, um sie vor diesem gefährlichen Subjekt des Landfriedensbrechers zu warnen, der sich selbst entlarvt hat mit seinem roten Stern! Der ominöse Schüler hat schon eine mündliche Zusage erhalten, gibt formalerweise nach der Prüfung sein Reifezeugnis ab, wobei ihm unversehens von der Super-Pädagogin geraten wird, die 30 Kilometer weiter entfernte andere Fachschule zu besuchen. Der Schüler, im politischen Handeln nicht dumm, wendet sich an die örtliche Presse der bayerischen Kleinstadt, übrigens vergebens! Ein hochrangiges Skandalon: Die staatliche Schule einer Demokratie, die verfassungsgemäß für jede religiöse, politische und weltanschauliche Konfession einstehen will, zumindest eine Verfolgung sich selbst versagt, verweigert einem kaum Volljährigen bürgerlich-sozial-staatliche Rechte, nämlich das der Freiheit zur Wahl des Berufs. Ein anderer Klassenkamerad bewarb sich auch mit ihm, welcher noch ein Praktikum zu machen hatte, um diese angestrebte höhere Fachschule besuchen zu können. Aber dieser Mitschüler, der eigentlich nicht derart prädestiniert ist für diese Ausbildung, wird freilich in die Schule aufgenommen. Dies mußte der Ausgegrenzte wohl doppelt bitter empfinden. Wogegen kämpfte der Schüler übrigens? Gegen die Atomkraft, gegen ein Projekt, das schließlich ein neuer Landesvater Bayerns gleichzeitig mit seiner Inthronisierung sofort stoppte. Auch ich werde durch die Berührung mit diesem Denunzianten-Rektor geehrt. Zweimal die Woche muß ich an dessen Schule unterrichten. Freitagnachmittag allein im Lehrerzimmer bei der Unterrichtsvorbereitung. Fertig, ich will mich aus diesem riesigen kahlen Schulgebäude machen, stehe aber vor verschlossenen Türen. Mein mir anvertrauter Schlüssel paßt in jedes Klassenzimmer, jedoch nicht für den Ausgang. Wiewohl sich aber von innen her diese Tür öffnen läßt, gelingt aber von außen her nicht mehr das Zuschließen. Ich rufe den Hausverwalter an. Ist gerade bei einem Dienstausflug des Landratsamts. Irgendeiner mußte benachrichtigt werden, schließlich konnte doch das Gebäude der Berufsschule nicht übers Wochenende für jedermann frei zugänglich sein. So benachrichtige ich einen Sachbeamten des Sachaufwandsträgers der Berufsschule, nämlich einen vom Ausflug Daheimgebliebenen des Landkreises. Am Montag darauf kommt der Hausverwalter auf mich zu. "Sind Sie derjenige, der...?" "Ja!" "Zeigen Sie mir mal ihre Schlüssel für die Berufsschule!" Ich gebe sie ihm nichtsahnend. "So, die sind jetzt konfisziert!" Diese Art und Weise... dies laß ich mir freilich nicht bieten und gehe zum Chef des Hauses. Dieser läßt mich kaum ausreden, denn mit "Schulfremde Personen haben keine Berechtigung auf Besitz eines Schlüssels!", kanzelt er mich ab und geht anstandslos zur Tagesordnung über: " Herr Hausverwalter, kommen Sie mal mit in mein Büro!" Damit war die Sache abgetan und die Rektoratstür schließt sich für mich Ausgestoßenen, der zwar wöchentlich einige Male in dieser Institution unterrichten darf, aber zuvor jedesmal um die Klassenschlüssel betteln gehen muß. Nach oben! 2. Lehrprobe, im Fach Deutsch, mein Lieblingsfach! Bereits unerlaubterweise in einer anderen Klasse vorher die Stunde durchexerziert, habe ich ein gutes Gefühl. Es ist ein Lyrikvergleich zweier Gedichte aus der Spätromantik und der Jetztzeit. Diese Stunde kam wohl auch letztlich dadurch gut an, daß ich das erste Gedicht mal vor den Schülern, mal zwischen ihnen hin- und herschreitend auswendig rezitieren konnte und somit die Schüler ganz schön verblüffte. Die Klasse der Lehrprobe, sie allerdings gerade kurz vor der Abschlußprüfung stehend, war wohl in einer verdammt düsteren Stimmung, so daß das zweite Gedicht aus unserer Gegenwart - wie auch nicht anders als minder düster! - ihnen so recht aufs Gemüt schlug. Note 5! Aber selbst der Arzt hilft nur temporär, wenn man überfordert ist. Unbeschreiblicher Streß, 20 Minuten nach Beginn einer Lehrprobe komme ich ins Lehrerzimmer gerannt: Ich habe keine Vorbereitung zustandegebracht. Also, was tun? Die Seminarlehrer, sich für den Schützling verantwortlich fühlend, vor allem, um nicht selbst vor hohen Beamten der Landesregierung degradiert dastehen zu müssen, raten, schleunigst den Amtsarzt aufzusuchen. Die hiesige Amtsärztin verweigert mir zu allem Übel noch die Untersuchung, schließlich sei sie für mich nicht zuständig, so daß ich 500 Kilometer zurücklegen muß, um von einem Amtsarzt, von dem an meinem behördlich angemeldeten Wohnungsort, untersucht zu werden. Vorschrift ist schließlich Vorschrift. Im Wartezimmer des Amtsarztes stelle ich mir die Frage, unter welcher Krankheit ich wohl leide? Ich habe nicht die geringste Ahnung! Mir wird schon etwas einfallen! Die Tür geht auf, ich hinein. Weswegen kommen Sie? Wegen einer Krankheit! Wegen welcher? Ich erzähle ihm etwas von meinem Prüfungsstreß. Wegen Durchfall vielleicht?, kombiniert der Arzt helle. Genau: Durchfall! So heißt man dies doch!? Aber welche Ursache? Haben Sie vielleicht Kirschen gegessen und darauf Wasser getrunken? Er hat mich nämlich schon einmal als Kind verarztet. Er als Arzt sollte es eigentlich wissen! Er wußte es. So belasse ich ihn in seinem Glauben und schweige. Der Arzt versteht dies Schweigen und schreibt mich krank. Er akzeptiert seine Grenzen und schreibt auf den Krankenschein: Durchfall! Es beruhigte mich hämischerweise, daß er doch wider besserer Einsicht Recht hatte, nämlich zwar im übertragenen Sinne, wenn auch nur nicht im biologisch-naturwissenschaftlichen. Im zweiten Jahr die dritte und letzte, über Bestehen entscheidende Lehrprobe. Diesmal gab man sich gleich mit vier Prüfern die Ehre, meinem Unterricht beizuwohnen. Das Thema lautet: Die Wirkung des Spiels in der Erziehung. 'Der Mensch ist dort wirklich Mensch, wo er spielt', sagt der Dichter Schiller. Doch ich ergänze ihn: "Sage mir, welches Spiel du spielst, und ich sage Dir, welch ein Mensch du bist!" Ich mußte jedoch ein etwas zu kompliziertes Spiel gespielt haben für diese Klasse hier. Ein zusammensteckbarer Stern war's, mit Motiven eines surrealistisch-geometrischen Designers, Escher, der Schmetterlinge in Echsen, Echsen in Schmetterlingen übergehen ließ. Obgleich dieser Stern nur als Demonstrationsobjekt diente, dessen Handhabung ich problemlos den Schülern vorführte, verzetteln sich sämtliche Schüler darin, ihn gleichfalls zusammenstecken wollend - die ganze Stunde durch, so daß kaum mehr Konzentration unter der Schülerschaft für den reibungslosen Ablauf der Stunde zu wecken war. Nach den Ferien kam die intelligenteste Schülerin der Klasse aufgelöst und erbost zu mir: "Herr Pentz, falten Sie mir mal den Stern zusammen. Selbst befreundete Studenten haben dies nicht fertiggebracht. Ich möchte jetzt einmal sehen, ob dies überhaupt geht!" In Nullkommanix machte ich aus dem Kartonmuster einen Stern. Nach dieser Lehrprobe Stundenbesprechung. Der erste Rektor meiner Geschichte, dazu noch eine hohe, ehrwürdige Regierungsbeamtin, die sich, wie sie sagte, mit so einer Stunde nicht abspeisen läßt, bemäkeln außerdem noch einige Rechtschreibfehler bei meiner schriftlichen Vorbereitung. Ich, stets bestrebt, etwas Neues zu lernen, frage vergebens nach - offenbar waren sie einfach zu faul, noch einmal den Unterrichtsentwurf durchzublättern. Später passiert mir übrigens das gleiche noch einmal, allerdings mit etwas jüngeren Seminarlehrern. Welche Lehren daraus zu ziehen sind, überlasse ich dem Leser selbst. Ich weile wieder einmal an meiner Universität, dort, wo ich all diejenigen Kommilitonen zurückgelassen habe, die es sich leisten konnten, weiterzustudieren anstatt sich ins Lehramt zu begeben. Sofort kommt eine Kommilitonin zu mir hergestürzt, mit einer Mischung von Verzweiflung und (Schadens-)Freude in der Stimme: "Was hast Du Dir denn wieder geleistet?" "Wie? Ich wüßte nicht was?" "Aber Dein Verhalten in den Lehrproben..." Also hatte sich die Kunde über mein Verhalten über eine Strecke von 500 Kilometern weiterverbreitet, unerklärlich, weil kein Mitreferendar Bekannter der Kommilitonin war. Sie mußte es über eine Referendarin erfahren haben, die in einem ganz anderen Lehramt Dienst tat. Da sag einmal einer, daß Bayern keine Provinz wäre. "Der Referendar zeigte folgendes Verhalten: er übertrug Kollegen Arbeiten...", stand z. B. in der von einem Psychologen gemachten Beurteilung meines dienstlichen Verhaltens. Ich dachte ernstlich beim Durchlesen der Begutachtung meines Lehrerverhaltens, daß Du jetzt eine gute Note dafür bekommen hast. Aber was an der Uni an einem Lehrstuhl für Wirtschaftswissenschaften gut ist, die Fähigkeit zu delegieren, läuft der Lehrerschaft an den Schulen zuwider. Die untätig herumsitzenden Kollegen kamen sich wohl ausgenutzt vor, wenn ich sie bat, mir doch bitte etwas aus Zeitnot zu kopieren, oder einfach auch etwas mitzukopieren. Note 5! "Selbst der betreuende Deutschlehrer hatte Schwierigkeiten im Unterricht des Referendars, beispielsweise bei Lyrikinterpretationen, dessen Auslegungen und Ausführungen nachzuvollziehen..." Die Interpretation dieser Beurteilung überlasse ich nun wirklich jedem Leser selbst! Ich erlaube mir nur kurz hinzuzufügen, daß ich darüber sehr stolz bin, zumal dieser Deutschlehrer jemand war, dem ich mich gegenüber völlig verweigerte und mich ja total weigerte, seinen Unterrichtsstunden und Interpretationen irgendwelches Verständnis entgegenzubringen. Er war ein solcher Pädagoge, der in fortgeschrittenen, kurz vor dem Abitur stehenden Klassen von Jugendlichen und Erwachsenen durch die Reihen schritt, und bei Beantwortung einer von ihm gestellten Frage in Sozialkunde oder Politik, dessen Antwort mit: "Du bist ein schlechter, du bist ein guter Nationalist!" quittierte. Nach oben! "Willst Du jetzt eine Kokosnuß oder Strafarbeit aufkriegen?", stellt mich mein Lehrer als Schüler vor die Wahl. Der harte Schlag auf den Kopf vergeht nach zwei Minuten wieder, außerdem stand man ob dieser Mutprobe vor den Mitschülern groß da; das primitive Niederschreiben eines Satzes einen Nachmittag lang schmerzt wohl länger. Also ziehe ich die Kokosnuß vor. Ich komme wieder in die Schule. Der Rektor stürzt wieder einmal auf mich zu: "Kommen Sie mal mit in mein Büro!" Erneut sitze ich dem Rektor gegenüber. Diesmal jedoch ist es ernster, er schaut auch ernster drein; diesmal sitze ich ihm zurecht gegenüber. Ich habe einer Schülerin eine Kokosnuß versetzt. Ich bin mir dessen gar nicht bewußt, kann mich nicht einmal mehr vage daran erinnern; möglich ist es ja, da ich mit dieser Mädchenklasse Disziplinschwierigkeiten habe und wohl in meiner Not en passant einer eine mir harmlos erscheinende Kopfnuß versetzt habe. Zu meinem Mißgeschick war es aber die Klassensprecherin, die freilich zum Vertrauenslehrer gerannt ist, welcher wiederum die Gunst der Stunde nutzte und mich beim Rektor denunzierte, halt, dem Beamtenauftrag verpflichtet, den Dienstweg antritt und den Vorfall der nächsthöheren Instanz, dem Rektor, weiterleitet. Den Rektor einzuschalten ist nun wirklich überflüssig, kommt nur der Karriere des besagten Lehrers zugute. Ich gehe sowieso ernsthaft über mein Verhalten bestürzt und vor mir selbst entsetzt zur Schülerin mich entschuldigen. Meinem Selbstbild nach bin ich kein Schlägertyp! Bin ich aber doch einer? Ich selbst habe es aber anno dazumal auch nicht anders gelernt, wie Strafe zu verteilen ist: "Willst du jetzt eine Kokosnuß oder Strafarbeit aufkriegen?" Die neuere Tiefenpsychologie spricht von der Auftragsvermittlung in der Familie für die einzelnen heranwachsenden Mitglieder: schwarzes Schaf; Karrieretyp; Versager usw. Das sollen sehr tiefgehende, subtile Manipulationen sein, denen sich ein Mensch oft nicht entziehen kann. Als ich einmal im Lehrerzimmer einen Betreuungslehrer beim Zeitungslesen antreffe, fragt er mich, in welchem für ihn fremden Fach die vorzubereitende Lehrprobe stattfindet. Es ist Soziologie. Ihn den Unterschied Soziologie versus Psychologie erklärend, antworte ich: Erste Wissenschaftsdisziplin kenne keine Schuldfrage, nur voneinander abhängige Elemente, die in einer bestimmten Funktion zueinander stehen. Sofort steht der Lehrer auf und rennt aus dem Zimmer. Wovor nur ist er so überstürzt davongerannt? Dabei fing alles gut an. Der neue Seminarliter schaute recht komisch und gab mir wortlos, nur mit Mimik und unaufführlicher Gestik zu verstehen, - war ja auch jahrzehnterlanger Pädagoge und von Haus auf Psychologe, in jener unergründlichen nonverbalen Kommunikation eben - zu warten. Meine anderen Gleichrangigen verstanden auch und fragten nicht einmal nach, ob ich mitkomme, sondern warteten anstandslos unten vorm Schultor auf mich, damit ich mit ihnen nach Hause fuhr. Dann, ohne sich nicht obligatorisch zu räuspern, denn dies tat er fast ununterbrochen, wobei er stets die Achseln zu zucken beliebte und die Hände zu Fäusten krampfte, was den Eindruck höchster Gespanntheit, Energieansammlung und Willensstärke blendend blinken ließ, sagte er in einem gedämpften, vertraulichen Ton: Er wisse Bescheid. Nachdem er die Fragen über meine Umstände zum neuen Einsatzort abgespult hatte, wollte er signalisieren, das wir dieses Kind schon schaukeln würden. Besonders hellsichtig wurde er aber hinsichtlich meines schier übermenschlich geschilderten Anfahrtsweges, denn seine Augen leuchteten gelb wie eine Ampel auf. Der Kleinkrämer hatte ein Schnäppchen entdeckt und der psychologische Kleingeist offenbarte seinen pragmatischen Sinn. Wie stellen wir dies nur richtig auf die Beine? Der Theoretiker konnte seinen Sinn fürs reale Leben unter Beweis stellen. Er denke da an seinen Nachbarn, der untermöblierte Zimmer vermiete. Er wolle nachfragen. Da ich Interesse heuchelte in der Hoffnung, nichts komme bei heraus, stimmte er einen noch wärmeren Ton an, wobei seine Achseln vermehrt zuckten, während er seine sieben Sachen penibel aufeinanderschichtete und in die abgewetzte, lederbraune, dünne Angestelltentasche stapelte: Daß könnte schon über die Bühne gehen..., womit er abschließend wohl seine Aufgabe meinte, mich Sorgenkind das Bestehen der vom KUMI gewährten Wiederholung der II. Prüfung zu bewerkstelligen. Wie ich wußte, wohnte er außerhalb in einem kleinen, ländlichen Vorort der Mittelstadt. Jeder kannte jeden, das übliche eben, seine dörfliche Reputation würde um einige Punkte auf der Indexskala steigen, wenn er solch einen fetten Happen an Land riß: einen sicheren, gut zahlenden Mieter für ein ganzes Jahr, was würde dies für ein dorfinternes Freudenfest bedeuten. Das biedermalerte er sich aus, wie man an seinem erregt-bewegten, diesbezüglich Striche vollführenden Falten um den Mund und auf der Stirn ersehen konnte. Ich aber sah mich jeden Abend vor der Tür auf dem Abstreifer seines Einfamilienhauses nervös mit den Füßen scharren, in der Hand ein Stück Papier, worauf die morgige, kommende Unterrichtsstunde konzipiert war und "Herr Oberstudiendirektor" oder "Herr Diplompsychologe X-Beliebig" durch die offene Tür ins muffelnde Wohn- oder Kochzimmer rufen, welcher mir sofort dienstbeflissen, noch kauenden Mundes und mit überdimensionalen Zahnstocher darin arbeitshungrig entgegenflog. Oder, wo gerade die Frau des Hauses, natürlich gleichzeitig Putzfrau, noch mit Schrubber und dreckig-naßem Lappen bewaffnet, mich militärisch dazu verdonnerte, Schuhe aus- und stinkige Filzhauspantoffeln anzuziehen und ich, nicht wissend wohin mit den Händen als bloß verlegen in die Hosentaschen zu stecken, bewundernd oder mehr angeekelt vor dem naß-blank-glänzendem Flureingang dumm und unentschlossen herumstehen würde, gehemmt darüber hinwegzusteigen, weil dieses schöne Machwerk dadurch wohl erneut verunziert werden würde, bis ich darauf gestoßen würde wie auf eine dünne Schicht Eis: "Nun gehen Sie schon und stehen mir hier nicht Weg herum!". Aber dieser vereitelte Plan, der auf jedem Fall sein Ansehen in der nächsten Nachbarschaft eminent hätte steigern lassen, war wohl die herbste Enttäuschung für den wohlwollenden Anleiter. Die zweite folgte bald auf dem Fuße. Es war sommerlich damals. Tagtäglich fuhr ich, um in die neue Seminarschule zu kommen, über 160 Kilometer. Dazu hatte ich eine Hausarbeit zu schreiben über ein Thema, daß ich denn nunmehr zum Fünftenmal während meiner Schul-, Fachhochschul und Universitätskarriere von vorn- nach hinten- und zurückwälze, kurz gesagt, es hing mir wirklich bis zum Erbrechen aus dem Halse heraus. Gut, ich hätte mir ein besseres, neueres heraussuchen können. Zum einen war ich aber schon so frustrierterweise phantasielos, zum anderen oktroyierte es mir der Psychologe seinem Metier entsprechend auf, der ja schon gewußt hatte, wo es für mich am besten wäre zu leben und zu wohnen, nicht diese langen Anfahrtswege in Kauf zu nehmen, sich lieber in leitend-behütende Obhut hineinzubegeben, welche dann auf den richtigen Weg führen würde, in dem Sinne meiner Absicht nämlich, endlich diesen saublöden Schein in Händen zu halten, der mir weitere Tore öffnen würde. Nur widerwillig begann ich mit der Arbeit. Anstatt nun "wissenschaftlich"-sachlich, was immer dies sei, offenbar jedenfalls nicht der gewünschten Vorgehensweise entsprechend, an das Thema heranzugehen, begann ich plötzlich, mich ihm "literarisch" zu näher, will heißen, anstatt einen nackten, parataktischen Schreibstil anzustimmen, pointierte und aphorisierte ich lustig vor mich hin. Anstatt schlichtweg selbstverleugnend in der Aufgabe zu synthetisieren und ungerichtet meiner Bedürfnislage sie zu bewältigen, zog ich Seiten auf und stimmte Saiten an, die mir Spaß bereiteten. Das blieb natürlich meinem Anleiter nicht verborgen. Genau dies schrieb er denn auch in die Bewertung hinein, die die schlechte Note begründete: aphoristischer, kurzer Stil. Vielleicht nicht mal weiter schlimm, aber da er anderweitig bereits, verbunden mit einer herben Enttäuschung, sein Fett abgekriegt hatte, brachte dies nun das Faß zum Überlaufen. Ich komme noch in den Raum, wo er und der Zweitkorrektor, ein guter Freund von ihm, sitzen, er diesem noch ein paar unmißverständliche Worte zuflüstert, und das war's denn auch! Beide Korrektoren kommen zum gleichen, schlechten Ergebnis. Da denn das Thema in einem Fachbereich lag, wo im ganzen Bundesland nur diese beiden Herren die Fachleute darstellten, waren meine Chancen der Anfechtbarkeit der Notengebung wohl gleich null. Mit vermeintlicher Objektivität, Wissenschaftlich- und Nachvollziehbarkeit legitimieren sie sich. Für jedermann zugänglich soll er sein, nur der unbestechlichen, unmanipulierbaren Leistung soll er zu verdanken sein, der Staatsdienst - April, April! Nach oben! In Umbarabanien (1998) Ich verlor eine große Illusion. Europa! Heute weiß ich: Sprech niemals mehr von Europa! Von Europa ohne Grenzen. Jedes Land solle seine eigenen unverwechselbaren nationalen Eigenheiten beibehalten. Europa bedeutete nur Gleichschaltung und damit ein Verlust an Vielfältigkeit. Vielfältigkeit, welch ein schönes Wort. Mein Land würde etwas von jenem Land abbekommen und umgekehrt, kultureller Austausch genannt. Damit würde jedes Land nur Eigenheiten verlieren. Sitten von drüben, würden sich hüben festmachen. Das konnte nach meinen Erfahrungen kein Ziel sein. Behalten wir die Einfältigkeit lieber bei. Jeder solle leben, wie es ihm Spaß mache - das kann nur das historische Ziel sein. Einfältigkeit, Einfältigkeit, Einfältigkeit - sei mir gepriesen solange ich lebe! Der Bericht meines Aufenthaltes in einem anderen Land wird so sachlich wie möglich gehalten. Der Autor zeichnet sich weder verantwortlich für Inhalt noch fürs Land. Vorneweg sei klargestellt, daß es tatsächlich existiert. Sittengemäß wird der Name verschwiegen. Jeder Leser wird diese Diskretion bald verstehen. Aber weil es sich erzählerisch ungeschickt auswirkt, diesem beschriebenen Land keinen Namen zu geben, wähle ich einen aus: Umbarabanien. Jeder Leser denkt, wenn ein Autor Negatives über ein anderes Land berichtet, daß er es vermeiden wird, den Namen zu nennen. Deswegen wähle ich Umbarabanien. Und jeder wird wissen, daß es sich wohl gerade nicht um dieses Land handelt. Nur vielleicht dumme, unseriöse Leser nicht. Die werden glauben, ich berichte über Umbarabanien. Als ich an die Grenze mit meiner Reisegesellschaft kam, war ich der einzige Ausländer im Bus, weit und breit auf einsamer Grenzflur der einzige Tourist, der in dieses wohlabgezirkelte Ländchen hineinwollte. Keiner hatte es also sehen, einen Besuch abstatten wollen, obwohl es doch Jahrzehnte lang hinter dem Eisernen Vorhang lag. Zum einen lag das sicherlich an den restriktiven Visaregelungen. Ausländern wurde ein Visum abgenötigt. Wozu sie bezahlen mußten! Ich war also der einzige, der dorthineinwollte trotz derartiger Hürden. Gut, das hatte ich vorher einkalkuliert, aber leider die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zunächst, da es eben in mein beschränktes Weltbild nicht hineinpaßte, daß ich Eintritt zu bezahlen hatte, überlegte ich, wie ich es anderweitig wieder hereinbekäme. Meine Milchmädchenrechnung war nun folgende: Würde ich, wenn ich ein von dort ansässiges inländisches Unternehmen benutzen würde, Geld sparen? Natürlich, schließlich wurde die Landeswährung weitaus geringer als meine veranschlagt. Es schien eine simple Rechenaufgabe zu sein: die zwanzigfache Multiplikation der einen mit der anderen Währung. Denkste - hatte ich doch eine Fahrkarte im West-Preis-Niveau bezahlen müssen. Alle Theorie ist grau, sagt der Dichter, aber dieser hätte erst einmal dieses Land sehen sollen. Ich versuchte positiv zu denken. Ich versuchte folgendermaßen positiv zu denken: Es wird schon seinen Grund haben, daß man dieses Land nur für besser Begüterte zugänglich macht. Ich redete mir also derartige Dinge ein, um mit den seltsamen Gepflogenheiten, die ihm vorauseilten, zurechtzukommen. Meine Spannung stieg dadurch sekundenweise ins Unheimliche. Fürs Visum sollte ich einen Vordruck ausfüllen. An und für sich ein normaler Vorgang. Auch, daß dieser nur in der Landessprache verfaßt war, machte im Prinzip nichts aus. Die Druckbuchstaben waren so unleserlich, daß ich getrost irgendwohin meine persönlichen Daten eintragen durfte. Das eben auch englische und französische Übersetzungen, Sprachen internationalen Standards fehlten, empfand ich aber schon als kleinen Widerspruch. Angesichts meiner wahllos gesetzten Informationen konnte man schwerlich etwas mit dem Visum anfangen. Dummerweise hatte aber der Zollbeamte gerade nichts zum Schreiben zur Hand. Auch gut, dachte ich, wenn ich es nicht ausfüllen konnte, das Ergebnis bleibt doch das gleiche. Ich legte das teuere Geld hin und wollte weggehen. Aber man drängte darauf, das Formular auszufüllen, allerdings wie sich bald herausstellte, aus anderer denn bürokratischer Korrektheit heraus So kramte ich zuunterst aus meiner Tasche meinen liebgewonnen Tuschefüller hervor und setzte in die Spalten und ausgesparten Stellen nach dem Zufallsprinzip meine persönlichen Daten ein. Der Grenzer lächelte, als er mir das Blatt und den Füllfederhalter mit einer Geste Moment-einmal-da-gibt-es-etwas-zu-Korrigieren wegnahm. Ich wartete. Aber er wünschte mir lediglich gute Weiterreise, wobei er ostentativ mein Schreibgerät in seine Brusttasche steckte, es wohlgefällig betätschelte und sein Gesicht zu mir wandte, auf dem sich ein sarkastischen Grinsen abzeichnete. In englischer Sprache, kaum zu glauben, sagte er: "Bye, bye!" Er, der mir bereits beim Ausfüllen große, leuchtende Augen über die Schultern geworfen hatte, hatte also meinen billigen Füllfederhalter liebgewonnen! Weder war die Kapsel mit goldenen Streifen verziert, noch befand sich darin ein hochbrisanter Mikrofilm. Vielleicht lag es aber nur daran, daß ich, eine Privatperson, im Besitz eines eigenen Füllfederhalters war? Wahrscheinlich waren doch Goldstreifen auf der Kapsel. Ich gewann bald vollstes Verständnis für diese Konfiszierung eines meiner privaten Besitztümer. Gold - das magischte Metall mit der größten Anziehungskraft auf Menschen - auch für, was sage ich, gerade für dieses Land! Trist und grau, mindestens 50 Jahre hinter dem Lebensstandard meines Landes liegend, erstreckten sich Hütten, aus Holz oder aus primitiven unbehauenen Steinstücken zusammengeklebt, Häuseransammlungen eine nach der anderen, jedes von hölzernen Verhauen für Vieh und Wintervorrat geschmückt. Zum ersten Mal also besuchte ich ein Land, daß sich selbst mit dem Adjektiv "groß" schmückte. Zugegebenermaßen tun, besser taten dies früher auch einige Länder. Und ich glaube, daß man gute Gründe gefunden hat, heutzutage davon abzusehen. Aber alles kommt wieder auf dieser verrückten Welt, wenn auch nicht beim gleichen Volk und am selben Ort, die gleichen Fehler, Irrtümer und Wahnideen Das erste Mal, daß ich also das Attribut "groß" mit diesem Land in Einklang bringen konnte, war, als ein ums andere Mal der Bus zwangsläufig hielt, weil ein scheues Pferd, eine verirrte Kuh oder bockige Ziege auf der Fahrbahn stand. Es bot sich die Gelegenheit, sozial-ökologische Studien zu betreiben. Ich konnte einen genaueren Einblick in die Lebens- und Arbeitsunterkünfte der Bevölkerung tun. Und wie gesagt, einen Moment klimmte wirklich die Größe, die Bedeutung dieses Landes beispielhaft für andere Länder auf. Woran läßt sie sich aufzeigen? Am Geruch! Die Hühner, Schweine und Ziegen nährten üppig den Hof bis über die Schwelle zum Hauseingang hinein. Deren Fäkalien, deutlich an den im schwarzbraunen Matsch sich abzeichnenden Fußabdrücken, feierten beneidenswert freie Urständ. Dies hatte bestimmt den Vorteil, daß dieses gärende Gescheiße eine energiesparende Auswirkung auf Hof, Gesinde und Mensch ausströmte - ökologisch ein Aspekt!. Ein Mythos über dieses Land berichtet über die einmalige Zuchtaktion dieses bewundernswerten Staates. Man borgte sich holländische Kühe über den Internationalen Währungsfond aus, offenbar ein Kredit, dem man diesem Land einräumen konnte. Um den Zuchterfolg auch wirklich zu gewährleisten, heuerte man zur taghellen Unterhaltung derselbigen einige folkloristische Musikantengruppen an, die die Kühe mit volkstümlicher Musik derartig beglücken sollten, daß sie schließlich so ziemlich alle internationalen Guinnesrekorde der Milchausschüttung übertreffen sollten. Nach oben! Endlich fand ich Einkehr in einem Hotel. "Hotel" ist hier ein irreführender Begriff. Dazu war es viel zu romantisch. Diese Art von Romantik ist uns Neuzeitlichen ja völlig abhanden gekommen. Denn wer spricht heutzutage im Westen noch mit Vögeln wie Franz von Assisi, teilt mit Würmern, Insekten und Spinnen sein kuscheliges Bett wie die Propheten in der Wüste? Aber ich hauste wirklich im engsten Hautkontakt mit den Tieren. Ja, ich würde gar so weit gehen zu behaupten, daß meine Behausung eine Art Tiergehege darstellte, eine Art von Biotop, worum mich der eingefleischteste Ökolog nur beneidet. Zuerst einmal lag es in einem Park, indem sich tatsächlich allerlei Vogelvieh befand. Mein Zimmer lag oben am äußersten Rand des kastenförmigen Gebäudes, das sich im offiziellem Sprachgebrauch noch als "Gästehaus" und nicht "Gästekasten" schilt. Dort, wo sich normalerweise ein Abstellkämmerchen befindet, befand sich eine eingemauerte Nische, also ein Freiraum, der in die Mauer eingelassen worden war. Davor hatte man eine großes Brett gesetzt anstelle einer Tür. In der Nische stand auf wackligen Beinen ein von fünf Brettern behelfsmäßig zusammengezimmertes Regal. Hinter diesem war ein großes Loch eingelassen, welches den Ventilator, sprich allgemein die Lüftungsfunktion innehatte. Ein daumendicker Draht, grobmaschig, schützte vor unliebsamen Besuchern, sprich Dieben. Im diesem großen Loch, mit diesem breitmaschigen Drahtkitterchen versehen war, hatte sich ein großer Vogel ein Nest gebaut. Anfänglich, wollte ich meine dreckigen Socken im Regal verstauen, erschreckte ich diesen, der mit einem lauten Schreckschrei wegflog und er damit mich, der mit einem unterdrückten Schockschrei zusammenfuhr. Der Vogel und ich, um unwillkommene Zusammenstöße zu vermeiden, einigten uns darin gütlich, daß er in diesem Loch nicht mehr nistete und ich nicht mehr den Verhau aufmachen traute. Eigentlich war dabei keinem geholfen. Doch - damit gewöhnte ich mir immerhin an, meine Dreckwäsche sofort zu waschen. Angesichts meiner unklinischen Umwelt eine hygienisch nicht hoch genug zu veranschlagende Übung, die ich mir aneignete. Trotzdem zog es durch das Loch immer noch wie in einem Affenstall. Wie sagte ich doch: Tierbehausung! Ich hauste Auge in Auge mit Kakerlaken. Auch war ich in angenehmer Gesellschaft mit Spinnen, die durch die Rohrleitungen der Toilette des Bads heraufkrochen. Trocken genug waren diese ja, da dadurch nur pro Tag eine Stunde rationiertes warmes Wasser floß. Obgleich die Außentemperatur durchschnittlich 15 Grad kälter war als hierzulande, heizte man nur vier Stunden am Tag: von sieben bis neun Uhr vormittags und abends. Die übrige Zeit lag ich wie der arme biedermeierische Poet frierend, oder sagte ich eben dichtend, in meinem Bett. Biedermeierzeit ist vielleicht noch etwas zu spät angesetzt. Barockzeit - ich denke hierbei an die Orgelkonzerte von Meister Bach. Denn was sich morgens an Klanggeräuschen der von der Kälte durchzogenen Rohre abspielte, gab jeder bombastischen Kirchenorgel alle Ehre. Gewiß waren die Bachschen Brandenburgischen Konzerte hier etwas modern interpretiert, aber eindeutig erkennbar. Meine Insekten verzogen sich wieder in die Rohre, als sie um sieben Uhr morgens das warme Wasser sein kontrapunktisches Vordringen anstimmen hörten, welches ich hingebungsvoll lauschte. Mein ganzer Tagesablauf von Anfang bis zum Ende war also umrankt von Musik: bei meinem Morgenschlummer erquickte mich schrille Musik zur Abwechslung des nächtlichen Scharrens und Krabbelns der kleinen putzigen Kriechtiere. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind permanent überfüllt. Die Preise sind zudem extrem niedrig, so daß sich erst die vor Menschen berstenden Waggons rechnen lassen. Um noch einen Platz zu ergattern, braucht man Ellenbogen. Diejenigen, die geschubst, weg- und vorgedrängt werden, nehmen es schicksalartig auf die leichte Schulter. Keinerlei Maulen, nicht mal böses Blicken erfolgt. Stattdessen genießt man die heilende Massage in der Menge. Ärsche massieren ein-, Rücken reiben gegen-, Köpfe schlagen aneinander. Aus diesem familiären Kontakt spricht die sprichwörtliche Wärme des südlichen Menschen. Besitzt du Größe, so kannst du wenigstens befreiend über die Köpfe der kleinen Einwohner schauen, ein Blick, den du allerdings nicht hättest tun sollen. Es baumeln Damoklesschwerter über den hin und hergeschaukelten Köpfen, die von der Gefahr nichtsahnend freudig lächeln und deren Taktgeber die in die Kurven gedrückte Straßenbahn ist, die dem Geräusch nach zu urteilen jederzeit aus den Schienen hüpfen mußte, sofern auch hier noch die Gesetze der Physik Gültigkeit besitzen. In der technischen Terminologie werden diese an dünnen Eisendrähten hängenden Leuchten harmlos Lampen geheißen. So provisorisch angebracht jedoch, wie sie waren, müßten sie hier jedoch treffender als Zeitbomben bezeichnet werden, jederzeit bereit, auf den unter ihnen harrenden Schädeln Licht und Leben auszublasen, und das explosiv. Angesichts dieser kindlich-lächelnder Menschen kann man sich gut vorstellen, was für ein freudiges Strahlen auf allen dann erscheinen würde. Schadenfreude ist ja bekanntlich eines der ersten, ureigensten menschlichen Regungen. In meinem Land hätte man Derartiges selbst im verwahrlosesten Abenteuerspielplatz wegen erheblicher Mängel der Sicherheitsvorschriften sofort verboten. Aber in meinem Land steht ja sowieso Sicherheit über allem, wofür es ja traurige Berühmtheit erlangt hat, und sah man in die Augen und Gesichter dieser freiheitsliebenden Menschen hier, hatte man es wieder mal überdeutlich vor Augen stehen: zuungusten der Freiheit. Für diese Menschen regte sich in mir das erste Mal eine echte, warmherzige Sympathie. Leider aber verschwand diese wieder schneller als mir lieb war. Plötzlich stellte ich nämlich fest, daß mein Geldbörse nicht mehr da war. So gut es ging, sich zu bewegen, betastete ich meine Hosentaschen und, man darf mir glauben, sämtliche in Frage kommenden Kleidungsstellen. In dieser Menschenwaschmaschine gehörte nicht einmal viel Geschick dazu, jemanden das Geld aus der Tasche zu ziehen. So ließ ich wieder meine Hände herabfallen. In einige Panik geraten, versuchte ich sofort telefonisch Kontakt aufzunehmen mit meiner Heimatbank, die mir kulant versicherte, umgehend eine Geldüberweisung zu tätigen. Ein anderer Tourist unkte allerdings, daß dies Wochen dauern könnte. Eine solch lange Wartezeit stand außer Frage, mußte ich doch von der Rezeption aus stets eine Woche im voraus bezahlen. Besonders viel Vertrauen hatten sie auch nicht gegenüber Ausländern. Oder aber sie brauchten so unbedingt dringend nötig die Kohle. Ich mußte schleunigst nach anderen Geldquellen Umschau halten, sprich, auf eigne Beine stellen mußte ich mich, um in diesem Land ein paar Groschen zu verdienen. Man kann sich leicht vorstellen, wie ich mich fühlte, als Tourist mit keinerlei Fremdsprachenkenntnisse dieses kleine Kunststück, diesen Drahtseilakt zu vollbringen, unter Arbeitsvertrag beschaffs Geldverdienens zu geraten. Als ich an diesem grauen Nachmittag in einem Park an eines wie ein Affenhaus aussehendes Holzhaus kam, stand ich vor einem Verkaufskiosk, mit Popcorn, Eis, Kaffee und all diesem süßen Schnickschnack für süchtige Kinder, und ich hatte dafür keinen müden Knopf einstecken. Trostloser kann man sich kaum fühlen. Was würden andere unter diesen Umständen tun? Natürlich würden sie Leute anbetteln: "Hast du mal eine Mark!", murmelte ich traurig vor mich hin. Aber hier verstand ja keiner meine Sprache. Plötzlich wurde mir ein Stengel Eis gereicht mit den Worten: "Laß Dir schmecken! Kamerad!" Die Person, die da hinterm Süßigkeitstresen stand, war's. Hätte sie jetzt ein rotes Weihnachtskonstüm angehabt, wäre ich sofort auf die Knie gegangen, weil ich das erste Mal an den Weihnachtsmann geglaubt hätte. Ein Hiesiger obzwar, oh Wunder, war er mit meiner muttersprachlichen Gewalt gesegnet! Diese verschlug's mir obendrein angeohr meines Glücks, ihn inmitten dieser reinen Bastion der Fremdartigkeit anzutreffen. Als ich ihm mein Unglück erzählte, klärte er mich erst einmal über die verschlungenen Wege einer Banküberweisung hierzulande auf. "Du mußt mindestens mit eineinhalb Monaten rechnen, wenn nicht sogar zwei!" So entmutigten mich die wieder die Aussagen des Ortsansässigen. Er bot mir an: "Du kannst doch hier im Parkgelände Eis an Touristen verkaufen, an Deutsche, Engländer, Franzosen. Deren Sprachen kannst du doch!" Ich fand wieder meine Sprache, denn ich stammelte bloß: "Aber ja, ja!" Nach oben! Es fing zunächst lustig an. Mit einem kleinen wackligen, selbstkonstruiertem Kühlwagen auf betriebenem Moped fuhr ich wie Graf Stolzhagen kreuz und quer durch das Parkgelände und bot Eiscreme an. Zwar waren die meisten Kunden tatsächlich Westler, aber auch Einheimische, und allmählich wurde ich außer mit Land und Leuten auch mit der Sprache vertraut. Von einem frequentierten Ort zum anderen dieses riesigen Stadtparks trottete ich auf holprigen Fahrbahnen, Geh- und Laufwegen, und ich fühlte mich bald so frei, wie kein zweites Mal in meinem Leben. Um einen richtigen, einen Abenteuerurlaub der ganz besonderen Art handelte es sich doch hierbei, und ich vergaß beinahe, warum ich all dies tat, so verrückt vor grenzenloser Freiheit fühlte man sich auf einem solchen Mopedchen. Das Geschäft ging gut für hiesige Verhältnisse. Meine Fremdsprachenkenntnissse hatten daran erheblichen Anteil, da ich denn die hin- und herirrenden Touristen ein bißchen auf die kuriose Weise unterhalten und zum Kauf cremiger Speisen animieren konnte. Meine Erscheinung als satter, gut genährter Deutscher, der aus einem der reichsten Länder der Welt kam, erregte doch einiges Aufsehen, der sich da in einem der erbärmlichsten, ärmsten Ländern der Welt verdingte. Neben dem Affenhaus die zweitgrößte Attraktion. Obwohl also mein Arbeitgeber zufrieden sein konnte, gebot jedoch dessen Mißtrauen, mich auf einen festen Platz zu nageln, wo ich den ganzen lieben langen Tag verharren sollte und mir die herabbrennende Sonne auf dem Kopf brannte. Das hatte den Vorteil, daß er mich jederzeit überwachen und unverhofft über die Schultern schauen konnte, was er auch allzuoft machte, nicht ohne mich immer wieder auf mein schlampiges Verhalten bezüglich herumliegender Verpackungspapierchen aufmerksam zu machen, respektive zurechtzuweisen mit den plumpsten Sprichwörtern: Ordnung ist das halbe Leben; jedes Ding an seinem Ort, erspart dir Müh und Not, und "hast Du je so eine Schlamperei in Deutschland gesehen!" Er gebrauchte diese appetithemmenden Sprüche so, daß man eher von Standpauke oder noch besser "Zusammenscheißen" sprechen mußte. Aber ich verzieh ihm, schließlich hatte er es ja so gelernt, er war ja nur selbst ein Opfer. Ein Ding der Unmöglichkeit war es ja, wirklich alles akkurat in Schuß zu halten, wenn so ein Strom von Touristen aus ihren Bussen quellte und wie ein Stoß über mich hereinbrach. Bei Hochzeiten war es ganz natürlich, daß das ansonsten feinsäuberlich nach Marken gestapelte Eis am Stil durcheinandergeriet und das hastig aufgerissene Verpackungsmaterial um meinen Eisstand schlampig herumlag, nachdem es über den vollen Müllkarton quoll. Aber ich war dieses Verhalten ja gewohnt, das war nicht weiter schlimm. Sich vom Arbeitgeber, Capo oder Meister zur Minna machen zu lassen, ist kulturelles Erbgut, das unsereiner durch genetische Hornhaut gut abwehren kann. Etwas anderes ist es aber, um gut verdientes Geld geprellt zu werden. Das, was ich verdiente, war wirklich nicht viel, aber es hätte gereicht, wenn ich das Trinkgeld mitberechnete. Gerade um das wollte mich dieser Betrüger prellen. Das empfand ich als ungerecht im Vergleich zu den Umständen eines Ausländers in Deutschland. Dem blieb immer noch so viel übrig, daß er ein paar Spargroschen zur Familie in die Heimat schicken konnte. Und ich mußte mir noch etwas Geld weglegen können, um die Heimfahrt zu bezahlen.. Schließlich bedeutete es zusätzliche Anstrengung, die Touristen, besonders solche, die Deutsche Mark locker in der Tasche führten, immer wieder dazu aufzufordern, in dieser Währung zu bezahlen, indem man sich den Mund fusselig redete: "Sie sparen sich unnötige Rennerei zur Wechselstube, denn ich gebe ihnen gleich in der hiesigen Landeswährung das Wechselgeld zurück." Das funktionierte auch ganz gut, und satte Zehnprozent verdiente ich also dabei, sofern die Geldwechselgebühren inklusive berechnet worden wären. Jedoch forderte mich dieser Schurke von einem Arbeitgeber dazu auf, ausländische Währung unbereinigt am Tagesende auszuhändigen. Es half nichts, ihm auseinanderzusetzen, wie man das in Deutschland, ja auf der ganzen Welt handhabte mit Trinkgeldern, worum es sich ja quasi auch handelte. Nein, er meinte, er brauche das Geld für den Kauf eines Mercedes, wozu er etwa drei Monate benötige. Meine beschränkte Vorstellungskraft bezüglich Aufenthaltsdauer reichte allerdings nicht über einen Monat hinaus. Sein Pech. Er breitete diese Argumentation in einem solch kameradschaftlichen Tonfall aus, als ob es mir ein Bedürfnis, Anliegen und Mitgefühl sein müßte, daß er schnellstens zu Geld käme, um sich solch ein teueres Auto zulegen zu können. Seine Rede unterstellte, daß es mir eine wahre Freude bedeutete, gerade bei ihm Arbeitnehmer zu sein. Wirklich, von mir aus gönne ich jedem Menschen auf dieser Welt seinen Mercedes, sofern er nicht auf meinem Buckel angeschafft ist. Ich murrte immer wieder. Schließlich verfiel er auf das dümmste, aber wirkungsvollste Argument. Egal, wie dies in Amerika, am Nordpol oder im Dschungel gehandhabt wird, wir machen das auf "umbarabanisch". Finito finale. Ich schwieg. Daraufhin war er bei mir so sicher, denn er deutete natürlich mein Schweigen als Einverständnis, so daß er darauf verfiel, kühne, aberwitzige Pläne zu entwerfen von wegen Zuschüsse von der Bundesregierung zu bekommen für den Verkauf von pfälzischen Saumägen hierzulande, weil ja schon die Pfälzische Landesregierung Abermillionen DM Kredit als Entwicklungshilfe in dieses Land steckte. Oder handelte es sich dabei um schwäbische Nudeln, fränkische Bratwürste, bayerische Weißwürste, Berliner Buletten? Jedenfalls nicht um Hamburger, denn die gab's leider schon an allen Ecken und Enden der Stadt. Er führte seinen Vorschlag aus, ihm getrost den Vertrieb zu überlassen, wobei von uns beiden letztlich ja keiner den Finger krümmen brauchte, dies besorgten schon Vertreter, die in die Gasthäuser und Restaurant des Landes für uns ausschwärmten. Das mußte ja wie Musik in meinen Ohren klingen, daß die Drecksarbeit anderen überlassen werden würde. Mein Arbeitgeber war durch eine hervorragende Schule gegangen. Ich wäre allenfalls für die Formalitäten und den Papierkrieg zuständig. Wir würden also eine gemeinsame Firma gründen, wobei die zehn, zwanzig, ja dreißig Prozent Gewinn, was er aber nicht erzählte, in seine Tasche wanderten, aber nur, solange noch nicht der Mercedes-Benz-Fuhrpark vor seiner Haustüre stand, versteht sich. So fühlte ich mich in diesem Moment so richtig aufgehoben unter seinen Fittichen, in diesem Familienunternehmen, wo auch seine Frau mitarbeitete, die mich morgens, wenn ich vom Affenhaus das Eis in meinen Kübelwagen transferierte, wobei sie gerade aus dem alten, schusseligen Mercedes Benz mit zwei Jahren veralteten, deutschen Kfz-Kennzeichen stieg und an mir vorbeischritt, nicht einmal eines Blickes würdigte, geschweige mich mit eines "Guten Morgens" bedachte. Daran dachte ich wohl mit skeptischem, düstrem Blick. "Zyklon B", äußerte plötzlich der Nebenmirstehende. "Wie bitte?", fuhr ich hoch, weil ich momentan nicht verstand. Er deutete süffisant auf den Platz touristischer Attraktion, worauf ein paar schmuddelig, ganz, ganz normal aussehende Kinder des Landes rollerboarderten, weit und breit kein Tourist auf dieser Flur war aber. "Ach so!", entfuhr es mir. Ich wußte, daß er jetzt erwartete, daß ich dazu lachte. Er wollte mich wieder aufheitern und damit Lieb Kind machen, also sich auf eine oder andere Weise einschmeicheln, wobei er leider auf Granit stieß, da er an den völlig Falschen geraten war. Hier versagte jeglicher Humor. Tiefe Querfalten bildeten sich stattdessen auf meiner Stirn, dunkle Wolken zogen vor meinem geistigen Auge auf. Mein Gehirn brodelte schwarze Dampfwolken, denn es heckte einen Plan aus. Ich entschloß mich, so schnell wie möglich den würdigen Absprung zu inszenieren, nicht ohne gehörig eine stinkige Staubwolke und ungeheuerliches Donnerknallen zu hinterlassen, wie es dem Gastgeber gebührte. Der sollte einmal am ganzen Leibe erfahren und richtiggehend körperlich spüren, daß Leute aus meinem Land nicht alle solche bestialischen Schwachköpfe waren, wie das allenthalben in Schwange stehende Vorurteil über dieses Volk umging, wo ich zufälligerweise auch Mitglied war. Er sollte unbedingt eine neue Lektion erteilt bekommen, woran er und seinesgleichen genesen sollte, ja. Seinen Eiskübel offenen Deckels der Sonne aussetzen und einfach nach Hause gehen. Noch besser den armen Kindern sämtlichen Inhalt vor die Füße zu schütten. Mit dem ganzen Eiswagen, versteht sich, versehentlich in sein Affenhaus zu brausen, so daß es über das Popkorn, das mit Alkohol gepanschte offene Eis und all diesen pappigen Schleckertörtchen zusammenkrachte. Ja, wenn ich besonders bitterer Stimmung war, sobald einmal wieder eine gestapo- und generalstabsmäßig durchgeführte Kontrollaktion über mich hereinbrach und zu übertölpeln suchte, jedenfalls mich mit übel verdaulichem Schrecken und entsprechend schwerer Wut zurückließ, flimmerte vor meiner strapazierten Phantasie noch viel Schlimmeres auf: Flammen über den aus Stroh und Heu gebauten Affenhaus! Bin ich denn aber so einer, ein, ein Brandstifter? Das wäre nun für meinen Bekannten eine ganz neue Lektion über Deutschtum, welches Kapitel man erst in jüngster Zeit bei uns wieder aufgeschlagen hat. Zum Glück aber kenne und akzeptiere ich kaum eine nationale Identität bezüglich meiner Person. Nein, ich begnügte mich mit meinen Vorstellungen und Phantasien. Sofort, als ich meinen Betrag zusammenhatte, um diesem Land den Rücken zuzukehren, verabschiedete ich mich, ohne mich zu verabschieden, indem ich einfach von der Arbeit fernblieb. Es scherte mich nicht mehr im geringsten ein gutes partnerschaftliches Einvernehmen zwischen Arbeitgeber und -nehmer. Daß ich zudem je noch einmal in dieses Land zurückkehren wollte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, so daß eine erneute Einstellung in diesen Familienbetrieb außer Diskussion stand. Am besten alle Gerüste hinter dir abbrechen, so daß du auch niemals mehr in Versuch gelangst, hierher zurückzukehren. Nachdem ich meine Hotelrechnung beglichen hatte, setzte ich mich in den nächstbesten Bus Richtung Grenze. Die Zollbeamten, bekannte Vertraute, nicht aber zu vertrauende Bekannte, witterten ihre Chance, in der richtigen Annahme, wenn jemand aus diesem Land herauswollte, daß er dafür sicherlich einiges hinlegen würde. Unser Bus stand stundenlang in eisiger Kälte, bei zähen Verhandlungen tauschten nur so die Dollar- oder DM-Scheine die Besitzer und endlich freie Fahrt in freiere Gefilde signalisiert! Wohl das erste Mal in meinem Leben, daß ich froh war, kaum einen Heller und Pfennig in der Tasche zu haben. Wenn ich auch noch dafür hätte zahlen müssen, hätte ich wahrscheinlich erstmalig einen Nervenzusammenbruch erleiden dürfen. Ich wünsche diesem Land alles Gute! Nach oben! Der Dichter Guiseppe Grünwedel - Ratgeber für Verleger (1995) Ratgeber für den Umgang mit Dichtern Eine Hilfestellung für den Verleger belletristischer Publikationen Ist Ihnen schon einmal der krasse Umstand aufgefallen, daß es eigentlich so viele Dichter gibt, aber so wenige von ihnen publizierte Werke? Und wenn sie auf den Grund dieses Umstandes versucht haben zu kommen, werden sie leicht den Schuldigen ausfindig gemacht haben. Wer gibt nämlich die Werke der Autoren heraus: der Verleger. Der Verleger ist der Schuldige an diesem bedauernswerten, kulturpolitischen Desaster. Als Verleger, der sich für das Versagen seiner Berufsgruppe schämt und verantwortlich fühlt, habe ich nun im folgenden anhand eines Beispiels exemplarisch versucht, die Bedingungen klarzustellen, die die Herausgabe eines Buches fördern oder verhindern. Möge es jedem ernsthaften Editor zur Anleitung und Hilfe dienlich und den Buchpublikationen in diesem unserem Lande förderlich sein, auf das es wieder zum alten der Dichter und Denker werde. Übersicht 1. Erstkontaktaufnahme zwischen Autor und Verleger 2. Du sollst Dir kein Bild machen von deinem Autor 3. Umgangsverhalten zwischen Verleger und Autor 3.1. Vermeid zu viel Reden und Interpretationen! 3.2. Nimm unbedingt eine abwartende Haltung ein! 4. Trenn strikt zwischen Verlegen und Privatleben! 1. Erstkontaktaufnahme zwischen Autor und Verleger Das Telefon klingelte. "Bitteschön!", schallte es mir sympathisch entgegen, dieses österreichisch Freundliche, nur von ihnen in dieser derartig hellen, ansteckenden Tonfarbe hervorgebracht. "Mein erstes Buch soll in Tiefseeblau gehalten und die darauffolgenden Bücher sollten in den verschiedenen Farben des Regenbogens gedruckt werden." Hier dachte ich bereits, daß der Anrufer jetzt einmal eine Pause... Aber atemlos redete derjenige am anderen Ende weiter: "Meine Literatur soll auch äußerlich Freude, Hoffnung und Zukunft ausstrahlen! Und jedermann soll sich daran erfreuen können und..." Rührig, dieses Ansinnen, ansteckend rührig. Aber ich blieb auf dem Boden mit meinen Worten: "Sie wollen ein Buch herausbringen!" "Richtig!", erwiderte er zunächst verdutzt, schließlich, wovon sprach er auch die ganze Zeit? Dadurch kam ich an die Reihe. "Zuerst, wie ist denn ihr Name?" Er hatte mich gar nicht gehörte, denn die Stimme stürmte schon wieder los. "Quer über den Einband soll wie bei einem Präsent eine in diversen Pink und Rosa gedruckte Geschenkschlaufe verlaufen. Jedem Leser soll sofort ins Auge stechen, daß der Inhalt dieses Buches ein Geschenk für ihn bedeutet." Eine ausgezeichnete Idee, paßte ausgesprochen gut in unseren Geschenkchen- und Verpackungskonsum, so gesehen. Aber hier schien mir nun wirklich jene Stelle gekommen zu sein, die durch die Redewende zum Ausdruck gebracht wird: Nun machen Sie einmal einen Punkt. "Sie wollen also in unserem Verlag ein Buch veröffentlichen!" "Aber ja, ja, natürlich", atemlos, aber doch verwundert. So besann sich Übereiferer endlich und wurde moderat: "Ähm, entschuldigen Sie bitte. Sie haben ja recht. Ich sollte mich erst einmal vorstellen!" Ich war mir durchaus bewußt über meine Unerfahrenheit im Umgang mit Autoren. Ich stand schließlich zu diesem Zeitpunkt am Anfang meiner Verlegerkarriere. So will ich hier keineswegs mein Mißtrauen verhehlen, das von mir Besitz ergriffen hatte. Was sollte ich von diesem Anruf eigentlich halten? Seriosität oder Scherz? Die hohe Fistelstimme am Telefon? Diese ins Weinerliche gehende Stimme erinnerte allzu sehr an einen Pubertanten. Sein Ansinnen mit den regenbogenfarbenen Büchern der gesammelten Werke, die erst noch zu schreiben waren - dummer Bubenstreich eines überkandidelten Gymnasiasten? Gleich einem Auftrag an eine Bäckerei, Hundert Stück Torten oder bei einer Metzgerei zwanzig Schweine am Spieß zu schicken an eine fingierte Adresse, deren Inhaber ein Streich gespielt werden soll? Stimmbruch oder vielleicht die von Melancholie belegte Stimme eines Lyrikers - das war hier die Entscheidungsfrage. Aber wie oft habe ich mich schon getäuscht bei unbekannten Anrufern, begegnete ich ihnen daraufhin. Eine hervorstechende Diskrepanz war mir dabei besonders bei Künstlern aufgefallen. Deren Stimmen am Telefon klangen stets viel, viel weicher als die Erscheinungen waren. Man sieht also, es ist nicht so leicht, die Stimme eines Anrufers richtig einzuschätzen, zumal wenn sie sich im Stimmbruch befand versus es sich um einen Künstler handelte und/oder noch schlimmer, bei Zusammentreffen beider Umstände. Es gehört eine Portion Menschenkenntnis dazu. Übrigens, wie sich später herausstellte, hatte er schon die Endzwanziger erreicht. Allerdings haftete an ihm immer noch etwas Unreifes, Unwirkliches, um nicht zu sagen Unnahbares. Aber ich will nicht vorgreifen. Zu bedenken will ich nur geben jenes geflügelte Wort von der Stimme als dem Atem der Menschenseele. Eben denn die Vorsicht, eine besondere Verlegertugend, hielt mich davor zurück, sofort wieder aufzulegen. Hinzu kam folgender hinderlicher Umstand. Er rief von außerhalb und sogar, siehe österreichischer Akzent, aus dem Ausland an. Schmeichelhaft, war also der Ruf meines Verlagshauses bereits bis über die Grenzen in nachbarliche Länder vorgedrungen! Erst einmal jeden Gesprächspartner Ernst nehmen, bei Erhärtung des Verdachts konnte immer noch ein resoluter Tonfall der Sache ein Ende setzen. Um ihm auf den Zahn zu fühlen, wandte ich nun einen äußerlich blöd anmutenden Trick an, aber dahinter steckte wirklich nur mein Erkenntnisinteresse der Ernsthaftigkeit wegen. Ich wiederholte nämlich eine Frage bezüglich einer Sache, die ja längst auf den Tisch lag. "Also, welche Vorstellungen haben Sie denn von ihrem Buch, das ich herausgeben soll?" Er würde erneut beginnen, das bereits Gesagte zu wiederholen, und schließlich darüber ermüden, nur diese Absicht steckte hinter dieser Frage. "Der Buchdeckel, also..." Wieder überschlug sich seine Stimme. Alle Achtung, dachte ich, der Autor ist von seiner Sache aber sehr überzeugt. "Das Konterfei von mir, dem Autor selbst, sollte darauf sein. Aber nicht einfach so, sondern bereits schon in einer Künstlerattitüde, verstehen Sie?" Aber mußte das sein? Ein bißchen Phantasie hat ja ein Verleger auch. Und die malte, malte eine schreckliche Vision vor mir auf. Ein Milchgesicht, auf dem ein Künstlerhut saß. Hüte für sich haben es ja an sich. Hüte machen Leute, wirkliche Leute, meine ich. Aber mit Künstlerhüten hat es eine besondere Bewandtnis, in diesem besonderem Falle: groß, geschwungen wie es vielleicht bei Divas der italienischen Oper zutraf. Gar dachte ich an jenen bekannten Dichterfürsten, dessen Signum gerade jenen Hut ausmachte. In diesem Falle würde ein übermächtiger Hut mit weit ausholend geschweifter Form erschlagend auf des Bübchens Gesicht wirken oder durch diese Kopfbedeckung das blasierte Jungengesicht erst so recht hervorheben. Kindsköpfig alles dies... Aber alle meine sumpfblütnerischen Ängste bekamen mit der Nennung seines Künstlernames den definiten Todesstoß: Peppo Grünwedel. Ich hielt mich am Telefonhörer fest. Jedenfalls der Junge hatte Phantasie. Natürlich war es nicht sein wirklicher Name, es war, einem Künstler geziemend, ein Pseudonym, ein Künstlername, etwas Aberwitziges, Skurriles, zusammengeschustert aus Italienisch und Österreichisch. Ich dachte an mein Verlagsprogramm und schluckte. Welch beeindruckende Phantasie solch einen Namen zu kreieren. Allmählich rührte sich in mir ein Interesse an seiner Poesie. Aber wie wohl das Buch lauten sollte? Ich griff zu einem Glas Wasser. Gelassen dachte ich an das Idealbild eines guten Verlegers, der sich dadurch auszeichnet, daß er auf die Marotten seiner Kundschaft einzugehen versteht. Wer weiß, ob aus Spleen nicht mal Mode und Trend wird? Damit mußte ich rechnen, dies würde sich dann im Barem auszahlen. Verlegen ist die Kunst, auf ungewöhnliche Zeitgenossen einzugehen. Nicht jeder konnte Verleger sein, war es auch nicht, weil eben nicht jedermann diese Kunst beherrschte. Zwar behielt ich es für mich, daß, wenn die Sache konkrete Formen annehmen, ich dem Autor schon dieses Pseudonym ausreden würde. Trotz aller Informationen war ich mir aber noch immer nicht im Klaren: bösartiger Gymnasiastenscherz oder tatsächlicher Autor? Egal. Würde diese Frage auch etwas zu spät kommen, ich mußte Klarheit gewinnen: "Woher haben Sie eigentlich meinen Namen und meine Telefonnummer?" Er nannte den Namen eines meiner Bekannten. Ich merkte wohl, daß ihn diese Frage an dieser Stelle irritierte. Warum wohl? Lag es möglicherweise an dem Bekannten, der, um es einmal fein auszudrücken, wegen etwas zu viel Phantasie immer wieder die Psychiatrie heimsuchte? Sie hatten sie doch nicht etwa dort kennengelernt? Recht bedacht jedoch sprach das eigentlich für ihn, sie wissen schon, wegen der Biographien bedeutender Künstler. So konnte ich über diese Auskunft Zufriedenheit verspüren. Aber was bewies letztendlich schon ein Name, schließlich war alles möglich und denkbar. Mein Bekanntenkreis war überall in Europa, ja bis nach Amerika verstreut. Wie sich verhalten? - Klar, ich durfte ihn nicht durch zu viel Skepsis vergraulen. So ein Dichter war gerade in diesem Punkt ja äußerst feinfühlig. Ich entschied mich zu einem strategischen, längst im Verzug stehenden, weil auf der Hand liegenden Zug. "Schicken Sie mir Ihre Sachen, ich lese sie mir in Ruhe durch und dann können wir weiterreden. Einverstanden?" Gerade bei Telefongesprächen kann man sich der Distanz zu einem Menschen peinlichst bewußt werden, wenn die gespannt erwartete Antwort verzögert kommt. Ein schwarzes Nichts umgibt den Telefonisten. Außer indefiniten Geräuschen in diesem umgebenden Schwarz sind keine Anhaltspunkte erkennbar. - Ich war mir also nicht sicher, ob ich den richtigen Tonfall getroffen hatte. Zumindest ermutigend mußte es nicht geklungen haben. Die Reaktionsverzögerung gründete aber einzig und allein auf die für den Empfänger unerwartete Aufforderung. Denn nun kam mit einemmal ein Schwall von Worten herüber, der sich nahezu unverständlich anhörte. Für diesen Autoren wenigsten war meine Bitte gleichsam wohl eine Zusage zum Verlegen. Denn dieser sah sich gezwungen, nun seinerseits in freudiges Versprechen auszubrechen: Jawohl, aber sicher, natürlich, heute noch wegschicken, so daß ich es morgen gleich lesen kann. Den zu entnehmenden Worten konnte ich es kaum erwarten. Nach oben! 2. Du sollst Dir kein Bild machen von deinem Autor "Komm zu mir, wir gehen die Korrekturfahnen gemeinsam durch. Du kannst ein paar herrliche Tage in den Bergen genießen. Eine schönere Umgebung kann man sich nicht denken..." Zum Eintippen des Buches hatte er mich zu sich, ins Österreichische, eingeladen. Ich stellte mir eine Hütte in den Bergen vor. Arbeit und Urlaub zu verbinden - ich konnte nicht nein sagen. Was ich mir nach des Dichters Worten ausmalte, fiel auf mich selbst zurück. Am Bahnhof kam es zum ersten Mißverständnis. Ich lief hin und her, sah keinen solchen Menschen, der meinem Bild entsprach. Denjenigen, den ich zuletzt am Bahnsteig stehen sah, hätte ich als letzten dafür gehalten: ein in schwarzen Leder Gekleideten. Gut, könnte übereinstimmen mit den absonderlichen Buchgestaltungswünschen. Am Bestimmungsort, ich stieg erleichtert ab und sagte befreit "Aha!" Ein merkwürdiger, undefinierbarer Blick schoß durch die Sichthülle des futuristischen Helms. Ich machte eine Drehung, um die überraschend dargebotene Umgebung einzuschätzen. Die Beschreibung der Hütte direkt in den Alpen - Österreich lag ja nicht nur in den Bergen. Immerhin, das kleine Ein-Familien-Häuschen am Rande eines Dorfes war mit Ausblick auf Wald und Berge. Die Umgebung war so schön, daß ich nicht einmal Erholungstage mit Nichtstun brauchte, ab und zu ein paar Blicke aus dem Fenster genügten. Ein Kinderspiel jede Arbeit angesichts der herrlichen Umgebung. Mit einiger Spannung wartete ich auf die Enthüllung des Helms. Es dauerte, bis das High-Tech-Ding entrastet, entstöpselt und heruntergehangelt war. Irgendetwas mußte ich ja sagen: " Hier der Rausch der Geschwindigkeit, der angesichts der Bergesstille und der Natur so schön leise nachklingt, wenn er verrinnt. Da sieht man mal wieder, wie der Mensch Gegensätze braucht." Heute weiß ich, oberste Verlegertugend ist Schweigen, so wenig Reden als möglich, jegliches Zuvielreden vermeiden. Mir schien nämlich, das Motorradfahren war ihm doch unangenehm im Gegenlicht des leisen schriftstellerischen Tuns. Krokodilsaugen, wunderbar smarte, diamantfarbene und aus den Augenhöhlen tretende, gifteten mich eindringlich sanft an. Mir lief ein kleiner Schauer über den Rücken. Er hatte mir eine Dosis Gift entgegengespritzt. Aber er strich mir mit den Armen sanft über meine Schultern. Statt etwas zu sagen, schaute er einen Moment prophetisch auf das kleine Haus, in dem wir die nächsten Tage zubringen würden. Sein vielsagender Blick weckte Neugierde. Ich musterte das Gebäude, an dem aber äußerlich nichts besonderes zu bemerken war. Er blickte mich vielsagend, ich blickte ihn fragend an - er forderte mich auf, die Arme gen vermeintlichen Weg ausgebreitet. Am nächsten Tag wollte ich mich sofort an die Arbeit machen. Beim Autor hatte ich den Eindruck, daß es ihm darum nicht so eilig war. Ich sollte mich erst einmal ausruhen, Tee trinken, die Natur auf mich einwirken lassen. Der begründende Satz lautete: "Meine Dichtung ist ohnehin zeitlos!" Ich war aber doch wegen der Arbeit gekommen? 3. Umgangsverhalten zwischen Verleger und Autor Im ganzen Haus herrschte ein heilloses Durcheinander, nicht nur, aber besonders doch was die Blätter der Dichtungen anbelangte. Der Dichter hatte die Angewohnheit, sie zunächst überall mit hin zu nehmen, um sie dann an Ort und Stelle liegenzulassen, einfach aus Vergeßlichkeit und Schußligkeit heraus, selbst am Abort. Ein paarmal hatte ich den Dichter zwar in Verdacht, daß er es beinahe darauf ankommen ließ, Poems zu verlieren. So fand ich einige im Mülleimer, ein anderes als Papier zum Anzünden des Holzofens. Lag dahinter Provokation gegen mich? - Ich glaube nicht, nein! Ich möchte dem Dichter keine Bösartigkeit unterstellen, schon aus Selbsterhaltungstrieb. Reine Zerstreutheit, höchstwahrscheinlich. Vielleicht auch eine unbewußte Einstellung seinen Werken gegenüber? Ober eben er wollte den Preis seiner Werke erhöhen? Jedenfalls mußte ich überall die weißen Produkte zusammenklauben, versuchen zu identifizieren, ob es sich um ein bereits besprochenes Poem oder Kurzgeschichte handelte. Nicht nur das sie überall, wie gesagt, wirklich überall verstreut herumkullerten, es existierten für jedes Machwerk oft mehrere Versionen, so daß das einmal besprochene, korrigierte und für akzeptabel empfundene oft nicht auffindbar oder nicht mehr identifizierbar war. Das Ergebnis war, daß ich meist das für das beste auserkor, welches mich am meisten ansprach, konnte ich schließlich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, welches nun unserem Konsens entsprach. Es ist leicht auszumalen, daß diese Aufgabe schon etwas unangenehm für den Verleger im eigentlichen Sinn war. Zumal daraufhin der Dichter sich unzufrieden zeigte. Aber dieses Kapitel sollte nicht weitergeführt werden. Hinzu kam aber noch, daß ich zwar gegen Geruch relativ unempfindlich bin, jedoch gegen Marmeladen- und Honigreste weniger. Das waren aber noch die geringsten Übel, siehe oben. Aber wie gesagt, lassen wir das. Darüber hat ein Verleger zu stehen. Nach oben! 3.1. Vermeid zu viel Reden und Interpretationen! Es ist bekannt, daß Verleger und Schriftsteller natürliche Feinde sind. Vor allem wegen poetischer Fragen. Der Verleger hat mehr den Leser im Auge. Poetologische Aspekte eines Buches können, müssen sich aber nicht gänzlich dahingehend ausnehmen. Dies hängt von der Art der Poesie ab. Beim ersten Durchblicken des Stoffes hatte ich zunächst diese Literatur nach rein formalen Aspekten betrachtet. Ich stieß hie und da auf Merkwürdigkeiten, machte jetzt den Dichter besonders auf eine aufmerksam: die gehäuften Wiederholungen in seinen Gedichten, wohl wissend um den poetischen Sinn von Wiederholungen, indem sie selbst Poesie darstellten, aber auch um die begrenzte Aufnahmewilligkeit des Lesers. Wie gesagt, ich mußte aber als Verleger hauptsächlich den Verkaufseffekt bedenken. Der Dichter war stur. Nicht so, daß wir uns in die Haare kriegten. Er wich um keinen Haarbreit von seiner Ansicht in keinem einzigen Fall ab, war in seinen poetischen Grundfesten unerschütterlich, was ja für ihn sprach. Statt sich die Sache im einzelnen noch einmal zu überlegen, rezitierte er die Gedichte, zu allem Überfluß auch die Wiederholungen mit einer Verve, die für die Poesie sprechen sollte. Da war nichts gegen zu machen. Man wird daher auch verstehen, daß ich es hier unterlassen möchte, Beispiele wiederzugeben. Ich blieb auch deswegen schon ohnmächtig, weil er immer wieder, sobald ich Kritik angebracht hatte, mir erst einmal freundschaftlich um die Schultern strich. Dann rezitierte er wieder. Damit paralysierte er mich gleichzeitig. Gegen diese Art Liebenswürdigkeit war ich machtlos. Ich wußte, daß es nur an diesen Körperberührungen hing. Ich empfand unser Verhältnis nun nicht so familiär, daß sie angebracht schienen. Es hatten diese intimen Gestiken für mich auch einen anderen Stellenwert als für ihn. Aber was half's. Die inhaltliche Seite warf eigentlich eine gänzlich andere Fragestellung auf. Aber dazu stellte ich mich völlig neutral. Da durfte ich ganz Verleger sein, wenngleich ich auch hier etwas zu weit ging. Hier einige seiner dichterischen Produkte ungeschminkt und ungereimt, wenngleich sinngemäß wiedergegeben. Zum Beispiel über Frauen. Frauen: sie sind wie Achterbahnen. Du setzt dich hinein, es geht mit ungeheuerer Geschwindigkeit auf und ab. Du genießt es. Wenn es vorbei ist, ist dir schlecht. Aber du steigst immer wieder ein. Soviel zu Frauen sind Achterbahnen. - Nun zu Frauen wie sie als Autos sind. Du fährst einen Sommer lang mit einem Ferrari und am Ende wird dir der Schlüssel abgenommen. Frauen, die wie Autos sind, Version II. Du fährst einen Porsche und steigst aus einem VW-Käfer aus. "Ich verstehe, wie du das meinst. Eine Frau, die du kennenlernst, rauscht gewissermaßen über dich hinweg wie ein Porsche. Gleichzeitig, in ihrem blendendem Glitter, kommt sie dir unerreichbar teuer vor. Eigentlich kannst du sie dir gar nicht leisten, diese Luxusklasse. Aber du lernst sie dann näher kennen. Als es vorbei ist, erkennst du, was von dem ehemals blendendem Schein in Wirklichkeit übriggeblieben ist. Ein eher langsames, aber von der Patina der Erinnerung und gemeinsamen Erfahrung matt glänzender, nicht minder wertvoller Oldtimer!" Ich war wirklich über letzteren Aphorismus angetan. Aber selten, daß ich bei meinen Erwiderungen auf derartig rat- und sprachlose Reaktionen stieß. Der Autor mußte sich innerlich die Haare raufen, denn ich merkte an seinem laserartigen Blick eine poetische Schmerzanwandlung, die ihn erschauern ließ. Meine Interpretation schoß stets zielsicher daneben. Jedesmal hatte es der Autor anders gemeint, vielleicht ursprünglich ähnliche Gedanken dabei gehegt, aber so direkt ausgesprochen, setzten sie die ganze Poesie zu stark und abrupt wieder auf den Teppich. Anfänglich dachte ich, daß er sich nur wie eine geschmeichelte Schauspielerin, die die Komplimente abwehren wollte, wandte. Im Nachhinein bin ich zur Erkenntnis gelangt, daß ihm meine Auffassungsgabe seiner Poesie schlicht zu materialistisch erschien. Tatsächlich, wie an den Beispielen dargestellt, siedelte ich sie doch zu sehr in einen modernen konsumorientierten Rahmen an. Ich wiederhole mich: Schweigen, so wenig Reden als möglich, jegliches Zuvielreden vermeiden, akzeptieren, was da auf einem zukommen mag. Akzeptiere! Was du kannst. Sofern du kannst... Also zweite Lehre aus diesen Interpretationsversuchen moderner Epigramme: Niemals, versuch niemals dichterische Stücke deiner Kunden zu interpretieren. 3.2. Nimm unbedingt eine abwartende Haltung ein! Das Anfangs geführte Gespräch über seinen Stil war wohl Grund dafür, daß er sich am zweiten Tag immer weniger um das Zusammensuchen oder -stellen der Prosastückchen kümmerte. Beinahe gewann ich den Eindruck, daß er meine Gegenwart meidete. Wahrscheinlich faßte ich also seine Arbeitshemmung persönlich auf. Ich merkte, daß ich mich mehr zurückhalten mußte. Ich tat es auch, allerdings vielleicht auch mehr unfreiwillig. Selten war ich in meinem Leben derart rat- und sprachlos. Am dritten Tag wandelte sich zu meiner Freude mit einem Mal die Stimmung. Der Autor schien sich innerlich wieder gefangen zu haben, kam auf mich zu, um regelrecht die Auseinandersetzung zu suchen. So kamen also weitere Gründe zustande, die nicht nur ich zu verantworten hatte, mit dem Dichter über sein Werk zu disputieren anstatt es herauszugeben. Denn mit dem Analysieren der Texte verlor sich die ursprüngliche Absicht, und wir traten auf der Stelle. Um mehr oder weniger tiefsinnige Gespräche zu führen, hatte er das Marihuana reichlich selbst angebaut, und nicht nur über seine Dichtungen. Die meisten wurden allerdings jetzt zusehends einseitig, da ich nichts mehr darauf erwidern konnte. "Schon beim Spucken bekomme ich Schuldgefühle. Welch ungerechte Wasserverschwendung, denkst du daran, daß anderswo in trockenen Erdteilen Menschen jeden Tropfen benötigen!" Zu derartigen Äußerungen konnte ich eben nichts sagen, weder Bejahendes noch Verneinendes. Ich traute mich einfach nicht einmal mehr zu räuspern. Ja, zu niesen. Welche Verschwendung bedeutete es sonst, wenn ich den Nießreiz nicht halten konnte! Ich begriff bald, daß ich da als beratender Lektor wenig bewirken konnte, unterließ in der Folgezeit jegliche Vorschläge für Korrekturen und machte mich an die konkrete Arbeit, indem ich die losen Blätter der Dichtungen gedankenlos in den Computer tippte. Ich als Verleger half lediglich ein Buch herauszugeben. Der Autor zeichnete schließlich alleine verantwortlich für seine Texte. Nicht nur in diesem Buch für die presserechtliche Seite, schwor ich mir, auch für das Lektorat. Allerdings flossen nun die Blätter der Dichtungen wie das Wasser der heraufbeschworenen Entwicklungsländer. Warum, außer den bereits erwähnten Gründen? In dem abgelegenem Haus war ein Kommen und Gehen wie vielleicht nur in einer kleinstädtischen Arztpraxis. Hauptsächlich Anhänger einer bestimmten indischen Sekte aus Deutschland, mit schönen bunten Gewändern. Warum gerade von denen, kann ich nicht beantworten. Es mußte ja geradezu wimmeln von ihnen dort, woher auch ich kam, was mir bislang noch gar nicht so aufgefallen war. Begrüßungen waren stets äußerst herzlich und zogen sich entsprechend den Ritualen in die Länge mit Küßchen hier und Umarmungen da. Hinzu kam, daß der Autor geradezu die Gelegenheiten ergriff, zu küssen und zu umarmen, wie er das bei mir ja auch schon exerziert hatte. Und eine naheliegende Gelegenheit war natürlich sein Buch. "Endlich ist es so weit. Mein Buch erscheint!", und wieder Schmatzen hier und Turdeln da. Obwohl wir erst ein Drittel abgetippt hatten. Die Beglückwünschungen, je häufiger erfolgt, standen dadurch in einem immer offensichtlicheren Widerspruch zum Anlaß. Ein weiterer Grund, daß der Autor mit dem Zusammenstellen der Gedichte nicht mehr nachkam. Stunden untätigen Herumsitzens waren schließlich die Folge. Mit abwesendem Blick fixierte ich unaufhörlich einem Punkt in den Bergen, ich glaube den Gipfel. Um die eine Frage kreisten meine Gedanken immer wieder und unaufhörlich: Weswegen wohl? Meine Gemütsstimmung wurde von der andauernd gespielten indischen Musik untermalt und also auch nicht gerade aufgeheitert mit diesem monotonen Singsang: "Hare-Krishna-Hare-Hare, Hare-Lama-Krishna-Krishna-Hare-Hare usw." Brennende Räucherstäbchen, undefinierbare Essenzusätze und ein unbekanntes Kraut, das geraucht wurde, betäubten zudem die Sinne. Nach oben! 4. Trenn strikt zwischen Verlegen und Privatleben! Die folgende Woche, eine sehr schlimme für mich, weiß ich heute noch nicht, wie ich sie herumbrachte. Schleppender Fortgang des Buches müßte man sagen. Das Bild des Autors, der mit einem Künstlerhut geziert war, sollte den Einband zieren. Nur, hier war die Assoziation mit den Büchern eines der größten deutschen Verlage nicht von der Hand zu weisen. Dazu kam auf der Rückseite die Aufnahme des Künstlers als Säugling, das grinsende Gesicht und die Genitalien breitbeinig dem Betrachter entgegengereckt. Ich versuchte des Künstlers Marotten dem Künstler auszureden. Ich brauche nicht weiter zu schildern, welcher Einflüsterungen, Zuredungen und Mühen es dazu bedurft hat. "Stell dir vor, du wärst hier abgelichtet als Säugling, der an der Mutter Brust saugt. Wäre das nicht angemessener?" Dieser Vorschlag gefiel ihm, sofort suchte er in seinem Fotoalbum nach einer solchen Aufnahme. Zu meinem Glück erfolgreich. Schließlich waren wir uns einig. Die Auftragsarbeit stand, allein das war wichtig. Meine Bedenken verschwanden auch wieder, als ich mich in die Arbeit flüchtete. Denn der Autor drängte nun vehement auf Veröffentlichung, indem er jeden zweiten Tag anrief. Ich beeilte mich, die Druckvorbereitung herzustellen und konnte ihn schließlich zur allerletzten Korrektur einladen. An diesem Wochenende, als es zur letzten Durchsicht seiten des Autors kam, war eine Fete bei Bekannten, und ich nahm ihn nach getanener Arbeit mit, besser er begleitete mich. Er wünschte dort vielleicht auch seinen Bekannten zu treffen, über den unsere Wege zusammenkamen. Österreich liegt in den Bergen, die doch recht kahl sind. Hier entstehen Menschen, wie der hier, Guiseppe Grünwedel. Aber Franken liegt in einem riesigen Wald, wo es dunkel, kühl und schaurig ist. Genauso lichtscheue Gestalten besiedeln diese Wald- und Steinfelsgegend. Zumeist rauhe Gesellen, deren Seele wettergegerbt ist. Mein Gast fühlte sich unter diesen Wald- und Rübezahlmenschen augenscheinlich nicht besonders wohl. Für einen Poeten war es zugegebenermaßen nicht der ausgewähltest erlauchte Kreis, wie man ihn sich wünschen und wo er wie ein Fisch in seinem Element schwimmen könnte. Nein, es waren einfach nur Fußballfans, Leute aus der hiesigen Gegend, also Jedermanns, die ich halt kannte, weil sie mir dauernd übern Weg liefen. Ich treffe keine besondere Auswahl von Partys, wenn mich ein Sensibelchen begleitet. Recht frühzeitig wünschte mein Gast zu schlafen. Er war wohl auch enttäuscht, unseren gemeinsamen Bekannten hier nicht anzutreffen, von dessen Begegnung er sich etwas versprochen hatte. Die Enttäuschung mußte ihn müde gemacht haben. Aha, eine Inspirationsphase, dachte ich arglos und naiv, eine Distanzierung zum Hier und Jetzt, das mit Wille und Vorstellung konkurrierte, was wußte ich schon, was in so einem Menschen vor sich geht. Nach meinen Erfahrungen mit ihm wollte ich es auch nicht mehr so genau wissen. Ich verhielt mich diesem gegenüber völlig gedankenlos. Zum Unglück war ich auch in diesem fortgeschrittenen Zustand des Alkoholisierens außerstande dazu. Ich wies ihm ein Zimmer zu. Allerdings war dieses bereits belegt, was ich aber nicht wissen konnte. Der Raum gehörte nicht mehr dem abwesenden Sam, wovon ich ausgegangen war. Dem in dieser Kommune herrschenden Wechsel gemäß war dieser längst ins bessere Zimmer rotiert und seines wieder von einem Neuen besetzt. Als sich nun der eigentliche Zimmerbewohner schlafen legen wollte, stand er vor verschlossener Tür seiner eigenen Bleibe. Was tut jemand, der plötzlich vor seiner verschlossenen Tür steht? Zudem, wo in diesem Hause niemals die Türen abgeschlossen werden? Der Poet wollte offenbar ganz sicher gehen, Nachtruhe zu finden. Er klopft mit Faust, Fuß und Rücken gegen die Tür, das ist ganz klar. Es bleibt aber eine Reaktion aus, wahrscheinlich weil Dichter vor Angst Decke übern Kopf gezogen hat. Was immer man unter solchen Umständen tun mag, jener jedenfalls schlug jetzt seine eigene Tür ein. In dem Moment, wo sich beide Auge in Auge, hier verärgertes, dort verdutztes gegenüberstanden, ging ersterem ein Licht auf über seinen selbst herbeigeführten Schaden, und er begann weinselig über seine zerschlagene Tür zu lamentieren. Der Dichter nutzte die Situation und machte sich aus dem Staub, ging vor Angst wahllos durch eine offene Tür in ein Zimmer und legte sich auf irgend einem Teppich nieder. Zufälligerweise geschah dies in meiner Unterkunft, wo er sich neben mein Bett legte, was ich aber noch nicht wußte. Nach dem Winseln, Stöhnen und Stauben zu urteilen, dachte ich, es würde sich gerade einer der zwei Hunde des Hauses vor meinem Bettvorleger bequem machen. Des Morgens schlich er sich noch einmal ins Zimmer zurück, um seine Schuhe zu holen. Er weckte den Schläfer dabei auf. Bestürzt stürzte er wieder aus dessen Zimmer. Nach einer viertel Stunde versuchte er es noch einmal. Der Zimmerinsasse erwachte erneut. Diesem riß nun endgültig der Geduldsfaden und malträtierte den Autoren rücksichtslos ungeachtet der besonderen Qualitäten. Jener stürzte mehr als bestürzt in mein Zimmer, in der Hand ein blindlings ergattertes Paar Schuhe: "Ich möchte nach Hause, ich möchte nach Hause, bitte!" Ein unwürdiger Anblick. Mein Autor entfloh zu Hause angekommen mit seiner Kawasaki 250 PS eiligst in Richtung beschützende Berge zu Kräutern, Blumen und Beeren. Poesie, meine Liebe, bei dir fühle ich Schutz vor dieser unwirtlichen Welt. - Ich weiß, gerade ein Verleger sollte wie der Schuster bei seinen Leisten bleiben. Bei meinem Bekannten stieß mein Gast übrigens nur auf Unverständnis. "Der hat sich den ganzen Abend schon so merkwürdig benommen, nichts gesprochen, kein Grüß Gott, nichts Verbindliches gesagt, nur immer hinterm Rücken von dir gestanden und doof in die Runde geguckt..." Daß die ganze Sache auf ein Mißverständnis beruhte und ich der Verursacher dieses war, wurde von meinen Freunden nicht akzeptiert. "Hat sich letztlich alles selbst zuzuschreiben, wenn man sich so benimmt wie der..." Mag sein - ich hätte aber nicht sagen können, woran dessen Danebenbenehmen eigentlich lag, schließlich hatte er sich ja keinesfalls laut, aufdringlich oder unhöflich betragen, lediglich kaum benommen, worin sein unmögliches Benehmen lag. Zu allem Überdruß hatte ich noch Ärger mit der Wohngemeinschaft, da der Autor wahllos ein der Kommune gehörendes Paar Schuhe entwendet hatte. Ich machte mich an die Herstellung des Buches mit dem Titel "Tage wie aus Glas"... Übrigens hatten der Autor und Verleger über diesen Titel noch eine kurze telefonische Auseinandersetzung geführt wegen des "wie". Auch das noch, dachte ich zwar, wich aber zunächst nicht einer Diskussion aus. Während ich es für überflüssig hielt, weil ich es als Titel zu lang erachtete, bestand der Autor darauf. Ich kam schließlich zum Schluß, daß, soweit ich den Poeten kennengelernt hatte, der Titel, das ist allerdings schon in Ordnung. In der letzten Phase der Buchherstellung, letzter druckreife Ausdruck des Textes mit besten technischen Gerätschaften, meldete er sich überraschend vom heimischen Territorium ab. Es schrillten bei mir sofort die Alarmglocken. Open end Weltreise mit indefinitem Ziel, ob ich dem Globetrotter je wieder zu Gesicht bekam? Da sollte er vorsichtshalber vorher einmal den ganzen Betrag der Produktionskosten überweisen. Danach durfte er sich meinethalben in ein buddhistisches Kloster zurückziehen, Welt und Schmerz, meinetwegen auch Weltschmerz ade sagend. Ich hatte Recht getan, das Geld im voraus einzufordern. Zurück kam nämlich ein vollständig umgekrempelter, neuer Mensch. Ich stehe allerdings nun hier an der schwierigsten Stelle meines Berichtes. Ich war nicht dabei, wie sich Saulus zu Paulus wandelte, konnte nicht teilnehmende Beobachtungsstellung einnehmen durch Fragen und Einfühlen, wie sich aus meinem Poeten nun solch ein ganz anderer Mensch herauskristallisierte. Der Umwandlungsprozeß muß von daher aus zweiter Hand berichtet werden. Der Hoffnungsträger weilte in Asien zur Unterrichtung von Industriellentöchtern. Wohl mußte er dazu nur ein paar Stunden aufbringen, und es blieb Zeit für Ashram und Musetempel. Plötzlich jedoch versiegte die poetische Quelle, zu viel Zeit, die nicht auszufüllen er vermochte, drückte auf Seele und Gemüt hernieder wie tropische Schwüle und herabstürzender Monsumregen. Besonders nach dem Wirken dieses Dämons quirlten Dämpfe von Angstnebel aus dem Dschungel. Einsamkeit, Verlorenheit, Ewigkeit einer fremdartigen Kultur und eines Landes, das sich weitab von der österreichischen Heimat befindet - ich bitte Sie, wer würde da nicht komisch reagieren? Wenn nun ein Autor der Leere begegnet, trifft er, das ist klar, auf seinen größten Widersacher. In Schreib- und Beschreibwut gibt er dieser einen Namen, wie eben gewohnt, den Dingen den Stempel der Sprache aufzudrücken. Aber welchen Namen? Was ihm jedoch widerfährt, spottet jeder Beschreibung. Der Autor durchmißt Himmel und Hölle. Phantasielos, wie er nun ist, weist er diesen zwei Welten leibhaftige Verwalter zu, die er von tradierten Figuren übernimmt anstelle ein paar Selbsterfundener: Gott und Teufel, Gut und Böse, Yin und Yan. Ich weiß, was ich dem Leser zumute. Erleuchtet traf er in Europa ein als ein wahrhaft neuer Mensch, der Zepter und Stab der Weisheit in Händen hielt. Tod und Teufel obsiegt, den Mächten der Finsternis, oder neuzeitlich Angst, ein Etikett versehen. Das Leben davor hatte seine Gültigkeit verloren und mußte ausradiert werden. Nur noch für die Sache des Guten leben. Dort, wo der Teufel in seinem früheren Leben geherrscht und seinen Samen ausgestreut hatte, mußte er jetzt mit Stumpf und Stiel, dem Stil eines Fanatikers gerecht, ausgerottet werden. Seine literarischen Herzensergüsse, jetzt unter dem getrübten Blickwinkel eines Klosterbruders gesehen, verbreiteten nur das Böse auf der Welt. Um es klar auszusprechen: Er beabsichtigte, nicht mehr zu veröffentlichen und beauftragte mich, sein Buch einzustanzen, sämtliche gedruckte 500 Exemplare, die noch bei der Druckerei zum Trocknen lagen, zu vernichten. Ich flehte ihn an, dies nicht zu tun. Schließlich sah ich auch voller Bedauern jenen Passionsgang mit Kreuz am Berggipfel in Österreich umsonst erlitten zu haben. Aber der Autor war nicht aus seiner stoischen Haltung herauszubringen, sagte lakonisch. "Ich muß erst einmal einen Bruder befragen!" "Aber laß dich doch nicht von anderen manipulieren!", insistierte ich verzweifelt. Ruhig kam es mir entgegen: "Im Gegenteil, ich laß mich gerade nicht manipulieren!" Ach, der sogenannte göttliche Funken! Und da das Geld ohnehin keine Rolle im irdischen Dasein spielt, so war das Resultat absehbar: Vernichtung aller 500 Exemplare der Auflage eines Buches von einem Autor, der... Schluß Nach oben! BürgermeisterWeiß aus der Stadt Roth (1990) Nachdem von Regelstudienzeit, Belegungspflichten und Staatsprüfung bis zur bitteren Neige gebeugt, habe ich diese Anstalt ('Erziehungsanstalt, Irrenanstalt, Bedürfnisanstalt' usw.) mit zwei Diplomen verlassen dürfen, um damit draußen in der Welt mein zweifelhaftes Glück zu versuchen. Ich ziehe natürlich in meine Heimatstadt. Es ist eine x-bliebige Kleinstadt hierzulande. Nennen wir einmal diese Stadt Rot, schließlich tut der Name nichts zur Sache, heißt es doch genauso ' man sieht rot' wie 'die Morgendämmerung ist rot', ebenso wie der des Bürgermeisters, um den sich diese Geschichte drehen wird und den wir zwecks Einprägsamkeit Weiß heißen wollen. "Ei, in der Welt ist er ja herumgekommen!", rief mein Onkel entzückt aus, als er wir uns nach den langen Jahren auf unseren Wegen begegneten. "Was habe er denn gemacht?" Meine kleinlaute Stimme erfolgte. "Studiert hat er auch noch en passant fern von Liebchen und Muttern!" Da er selbst jahrelang als Handwerksgeselle auf der Walz war, versetzte ihn dies in Achtung. "Und gleich zwei Hochschulabschlüße noch dazu gemacht, Donnerlittchen! Da müsse man ja schier den Hut ziehen vor dem eigenen Neffen." "Womit aber gedenke er denn jetzt wohl, seine Brötchen zu verdienen?" Diese Frage hatte ich sowohl erwartet wie befürchtet. 'Schriftstellerei!' Meinem Onkel vergeht das Staunen. "Nun ja, auch Schreiner für exotisches Holz könnten ihr Auskommen haben, wenn sie wissen, es richtig anzustellen", äußert er verständnisvoll. Er war alles andere als engstirnig. Dennoch klang es aus seinem Mund nicht gerade enthusiastisch, nicht überzeugend, auch nicht anteilnehmend. Was ich denn nun aber konkret mache, fragte er schließlich verbissen und unbeirrt weiter. "Eine Kunstzeitschrift!", murmelt er vor sich hin. Sein bereits unterdrücktes Erstaunen bei der Schriftstellerei macht sich jetzt aber bei dem Stichwort Kunstmagzin wie folgt Luft durch das Sputum, welches nun die Welt erblickt, Raum, indem es aus seiner Kehle an meinen Schuhen vorbei in den Rinnstein saust. "Stelle er doch mal einen Antrag auf Unterstützung der Kunstzeitschrift bei der Stadt! Vielleicht hilft es, diese Zeitschrift billiger an den Bürger zu bringen. Damit wäre doch allen gedient: Den Stadteinwohnern und den Künstlern." So entfernte ich mich von meinem Onkel wie als kleiner Junge schon, als er mir nachrief: "Bub, geh doch nach Hause mit deiner vollgeschissenen Hose!" Ehrrührigerweise, aus familiären Rücksichtnahmen heraus, zugegeben nicht gerade mit Hoffnung beseelt, fühlte ich mich halt dann verpflichtet, einen solchen Antrag zu stellen. Dabei dachte ich wirklich: Schaden könne es ja nicht! Doch mein schriftlicher Antrag auf Unterstützung der Kunstzeitschrift wird von Amts wegen postwendend vom Bürgermeister abgelehnt. 'Vom Amts wegen?' Dieser Bürgermeister ist Demokrat und entscheidet autokratisch über die Begehren seiner Bürger!? Dies widersprach nun meiner naiven Vorstellung von Demokratie. Diese Worte meines Onkels hallten zusätzlich in meinem Ohr wieder: "Sauerei, wie Ihr leben müßt. Andere stecken die dicke Kohle in die Tasche..." Seine Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. So stelle ich also noch einmal einen Antrag. Diesmal nimmt sich Herr Bürgermeister Weiß etwas mehr Zeit und erklärt in seinem Schreiben, daß für derartige Projekte die Stadt Rot keine Gelder zur Verfügung stellen kann. Es bestünden Richtlinien dieser Stadt, die den Umgang mit Künstlern eindeutig regeln. Diese sähen keine einmalige oder regelmäßige Förderung einer Künstlerinitiative vor. Da ich reichlich mit Zeit gesegnet bin und ich auch nichts anderes gelernt habe, gehe ich wieder einmal studieren, diesmal aber jene geheimnisvollen Richtlinien wollend. Doch bringe ich den ganzen Verwaltungsapparat durcheinander auf der Suche nach jenen ominösen Weisungen für den Umgang mit Künstlern, worauf sich Herr Weiß in der zweiten Aussage berief - denn es gibt sie überhaupt nicht! Lediglich einen außerordentlichen Beschluß des Stadtrats für den Gesangsverein Bauernhöfen, einem Viertel der Stadt Rot. Diese bekommen jährlich einen bescheidenen Zuschuß. Der falsche Demokrat hätte mit dem Attribut 'Lügen' versehen werden müssen: Statt Demo-krat besser Lügen-auto-krat. Zwangsläufig mußte ich mich mit dem privaten Gesangsverein Bauernhöfen messen: a) Der Leserkreis meiner Kunstzeitschrift umfaßte gewiß auch den Hörerkreis. b) Ob nun die Qualität der Kunstwerke meiner Künstler mit deren Gesangsniveau konkurrieren durfte, überforderte zugegebenermaßen meinen Kompetenzbereich. Auf der anderen Seite war aber auch in der ganzen kleinen Stadt keine Person, die die Werke meiner Künstler hätte begutachten können. Vielleicht dann irgendein Beamter in der Verwaltung? - Um auch das noch zu verhindern, ergriff ich die Flucht nach vorn - und stellte noch einmal einen Antrag. Warum wird der realistische Leser fragen? Warum versucht er noch einmal Eulen nach Athen zu tragen? Diese Frage muß ich unbeantwortet lassen. Zu meiner hilflosen Verteidigung führe ich an: Ich bin Künstler! Ich räume gerne ein, daß ich angesichts meiner mittlerweile gesammelten bescheidenen Erfahrung nicht gerade besonders viel Vertrauen in dieses vielbeschworene demokratische Gemeinwesen gewonnen hatte. Aber als aufgeklärter und mündiger Bürger würde ich mich allemal bezeichnen wollen. Und da das Verhalten dieses demokratisch gewählten Volksvertreter glasklar ein reines Politikum, halt, schon politisches Skandalon darstellte, wurde mein politisches Selbstbild herausgefordert. Nach oben! Parallel zu einem vorsichtshalber erneut gestellten schriftlichen Antrag nahm ich telefonisch Kontaktaufnahme mit dem Bürgermeister auf. Nun ja, er wolle mich wirklich nicht abwimmeln, aber wenn jeder Hausfrauen-Bastel-Klub in dieser Stadt für Perlen, Makramé und Zwirn Geld erhielte... a) Von Geld war keine Rede gewesen, nur von Unterstützung. b) Der gute Mann hatte die künstlerischen Werke überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen... und so gingen die weiteren Worte in mein Ohr hinein und wieder hinaus, und ich legte perplex auf. Ein Bürgermeister namens wie auch immer dieser Stadt sowieso, deren legitimer Bürger ich zufälligerweise war! - hielt nicht gerade viel von seinem Stimmvieh. Ein Bürgermeister, der seine Wähler für beschränkt hielt, mag zwar nichts besonderes sein - aber daß ich so schnell abgekanzelt wurde - kurzum, die ganze Sache begann meine staatsbürgerliche Seite in mir zu verletzten. Ich wiederhole: die Staatsbürgerliche - zugegebenermaßen ein meine Person tangierender Aspekt, den ich bislang noch gar nicht entdeckt hatte. So mußte ich jetzt den Spielraum des "politischen Handelns" auf der demokratischen Spielwiese ausloten, abstecken und erkunden - jetzt und dann nicht mehr wieder so schnell. Ich war selbstredend an dem Abend, als die Stadträte über meinen Antrag auf Unterstützung der Kunstzeitschrift "Innerlichkeit" ihre Entscheidung treffen würden, präsent. Denn beim inzwischen vierten Antrag auf Unterstützung der "Innerlichkeit", die allein schon wegen ihres Namens, der auf politische Resignation schließen ließ, in gewissen fortschrittlichen Kreisen auf vehemente Ablehnung stieß, hatte der Bürgermeister endlich die Entscheidung in die Hände der gewählten Volksvertreter übergeben. Ich platzte mitten in die Stadtratsversammlung hinein. Ich wußte ja nur, daß, nicht wann über meinen Antrag beraten werden sollte, wobei ich auf das "daß" zufälligerweise beim Durchblättern der Lokalpresse stieß. Keine Verwaltungsfachkraft der Exekutive scheint es für nötig zu halten, einen Antragsteller über den Termin, Ort und Gremium der Darlegung, Beratung und Abstimmung seines Antrages rechtzeitig Bescheid zu geben. Ich schlich mich in die Zuhörersitzecke. Außer mir befand sich niemand dort. Das mangelnde Interesse der Bürger an ihren Belangen war erstaunlich, wich schließlich der noch größeren Verwunderung über deren Vertrauensseligkeit angesichts dessen, was sich vor mir abspielte. Eigentlich stellte ich mir stets unter einer parlamentarischen Demokratie so etwas wie ein Bühne vor, wo, bevor ein tragfähiger Konsens zur Entscheidung kam, ein tragödisch-sheakspearsches Hick-Hack zur Aufführung käme. Meine Naivität wurde enttäuscht. Zunächst verfolgte man nämlich wie in den Universitäts-Hörsälen andächtig das von einem Ingenieur mit einem Schaubild anschaulich demonstrierte neue Straßenprojekt von Rot nach Blau. Daraufhin entschied man sich mehrheitlich dafür, nachdem es ein Ratsmitglied auf den Punkt brachte: wären ansonsten doch die Gewerbetreibenden von Grün im Vorteil. Da war erst mal Pause. Wehmutsvoll dachte ich an meinen Geburtsort Schwarz, der vor der Rückkehr des verlorenen Sohns ein beschaulicher, idyllischer Marktflecken war, eingebettet in eine grüne Talsohle, der von rotgefärbten Dachziegeln geschmückten Bauernhäusern besiedelt war. Heute stand bereits am Dorfanfang das Wahrzeichen modernen Treibens: ein schäbiges gelbes Hochhaus. Ich spürte darüber jedesmal einen Schlag ins Gesicht. Wenn das aber so war, daß hier Interessenvertreter ihre Projekte dem Stadtrat vorstellen durften, warum nicht auch der Vertreter einer Künstlerinitiative? Ich sah mich schon dort vorne stehen, wie ich Bilder qualitativer Machart präsentierte, z. B. Köpfe junger politischer Mörder, die man aus gutem Grund straf- und polizeirechtlich verfolgte, und ich würde dabei mit meinem Zeichenstock auf den Esel inmitten des Bildes zeigen und fragen: "Was will nun dieser Esel hier?" Die kommunalen Politiker würden bestimmt aus dem Schutz des Zuhörerkreises heraus brüllen: Geschlagen werden, geschlagen werden... Mein Onkel kam im Foyer militärisch dahergeschritten. Sofortiges Ansprechen meinerseits mit meinem Anliegen; militärische Kehrtwende seinerseits mit dem Kommandoton: "Nichtstadträte haben keine Redeerlaubnis!" Die klobige Eichentür zum parlamentarischen Forum schlug schwer hinter ihm und vor mir zu. Sofort stürzte ich aber wieder in den Saal hinein. Am Ball bleiben, mitspielen, nicht unterkriegen lassen, dachte ich. Plötzlich ergriff das Wort vor diesem hehren Auditorium ein Jugendfreund - ich traute meinen Ohren nicht. Unglaublich, doch meine Augen bestätigten sie. Welcher Partei er auch immer angehören mochte, er durfte hier etwas sagen, egal auch, ob er auch etwas zu sagen hatte. Er mußte legitimiert dazu sein. Während seiner Rede zogen die Bilder seines künstlerischen Schaffens an mir vorbei: Handwerklich gute Imitationen Picassos. Ein bildendes künstlerisches Talent verstieg sich zu solchen Aussagen in einer Rede: "Ein Klotz bleibt immer ein Klotz!" Ich dachte mir, stimmt schon, Klotz bleibt Klotz, sofern es keine Künstler mehr gäbe... So zögerte ich einen Moment, bevor ich ihn in der zweiten Pause ansprach. Denn ich wußte zwar, daß er sich mir entfremdet hatte nach unserer letzten Begegnung, weil seine Frau dabei offensichtlich nicht wußte, wohin sie ihre Hände tun sollte. Dennoch hatte ich ihn als einen vernunftbegabten Menschen in Erinnerung. Es war nicht zu erkennen, ob er erfreut war, denn cooles Pokerface fragte sachbezogen nach dem Grund meiner Anwesenheit. Sofort fühlte ich mich in den Rahmen demokratischen Handelns einbezogen und blühte auf: Rede gegen Widerrede, Argument gegen Argument, bis schließlich Überzeugung sticht. Wirklich, ich wollte losziehen, zeigen was ich gelernt hatte an Universität und sonstigen höheren Schulen. Aber mein Wille gehorchte nicht meinem Mundwerk. Stattdessen direkt auf seine Frage einzugehen, leierte ich sachlich meinen Werdegang seit unserer letzten Begegnung herunter. Ich versuchte wieder dort anzuknüpfen, wo die Freundschaft vorübergehend, dachte ich, unfreiwillig geendet hatte. Ich merkte selbst, daß ich das Thema verfehlt hatte. Es ging hier nicht um Freundschaft. Seine Augenmusterung erinnerte mich an einen Kreiswehrersatz-Offizier gegenüber einem jämmerlichen Waschlappen von Politikrekruten. Um der ansteigenden Panik Herr zu werden, mußte ich etwas sagen, mußte losblubbern, auch um das dadurch entstandene Schweigen auszufüllen: "Und Dich hat also Dein Weg in die Politik geführt", wobei sich mir ein Seufzer entrang, welcher freilich diese schlichte Aussage auf eine unbeabsichtigte Beziehungsebene transportierte von wegen "zu mehr hast du es nicht gebracht" oder "was besseres ist dir auch nicht eingefallen". Der ungewollte Gegensatz, hier Künstler, dort Politiker, der nun im Raum stand zwischen uns, erregte ihn sonderbarerweise. Aber sein Engagement in der Politik habe sich für ihn noch nicht ausbezahlt, meinte er jetzt noch vertrauensselig und einen Rest Kumpelhaftigkeit beinhaltend. Ich jetzt ja erleichtert, daß er endlich sprach, hatte jedoch mit so etwas überhaupt nicht gerechnet. Machte ich denn in dieser Hinsicht überhaupt eine Andeutung? Ein eisiges Schwingen breitete seine Schwingen über uns. Plötzlich brach er unsere ohnehin brüchige Konversation erregt ab: "Du interessierst mich überhaupt nicht mehr!" "Wie bitte?" "Deine Person interessiert mich nicht mehr?" Dabei rückte er seine enge Krawatte zurecht, strich sich die Anzugflügel gerade und setzte mit den Füßen ein paar Mal auf dem Boden auf, als wäre er ein störrischer Esel, der nicht bereit war, einen Schritt vorwärts zu machen. "Ach so, jetzt verstehe ich erst!" Ich war manchmal wirklich etwas schwer von Begriff. Währenddessen mein ehemaliger Freund schon wieder in der Stadtratsversammlung untergetaucht war, wo er wohl weiter seine Reden schwingen durfte, verkroch ich mich wie ein geschlagener Hund in seine Ecke, in diejenige, die ihm zugedacht worden war. Ich geriet ins Grübeln. - Welches Spiel wurde hier gespielt? Ich war ja noch so grün hinter den Ohren in Sachen Politik? Jedenfalls grüner als mein ehemalige Freund, obwohl ich diesen Umstand meines Grünseins im Gegensatz zu ihm nicht an die große Glocke hing. Endlich machte man sich an den Antrag der Künstlerinitiative "Innerlichkeit". Der Bürgermeister ergriff eloquent das Wort, und ich freute mich endlich auf eine jener, wie man aus den Schulbüchern weiß, brutus-, ciceroähnlichen freien Reden, die... Aber er begann den Verlauf der bisherigen verwaltungstechnischen Verhandlung nüchtern-schlicht zu schildern: erster, zweiter, erneuter Antrag, Telefongespräch, wozu er sinngemäß das Hin und Her der Worte wiedergab. Bemerkenswert geduldig wurde jeder Einzelschritt der Verhandlung geschildert. Da ich offensichtlich zu blöde für den Sinn dieser Ausführungen war, wäre ich darüber beinahe eingeschlafen, wenn nicht jetzt die Herren Volksvertreter zupackend das Wort an sich gerissen hätten. Mein Onkel meinte: Er habe bereits ein Exemplar der besagten Kunstzeitschrift in der Hand gehalten, welche recht ansprechende künstlerische Produkte hiesiger Künstler enthalte. Ein alteingesessener, älterer Roter äußerte daraufhin den Verdacht, daß diese Kunstzeitschrift vielleicht gar nicht existierte, habe er doch in den Zeitschriftenläden Rots bislang noch kein Exemplar davon in Händen gehalten. Mochte er nicht gerade blind sein, aber taub schon, weil er die Rede meines Onkels nicht gehört hatte. Aber weiter fühlte er sich demzufolge aufgerufen dazu, das parlamentarische Forum vor Schaden zu bewahren und sich nicht vor arglistiger Täuschung hinters Licht führen zu lassen. Offenbar handelte es sich hier bei der Antragstellung um den betrügerischen Versuch, Staatsgelder zu erschleichen, was man ja kenne usw. Ein Sprachrohr der Vernunft nahm aber daraufhin für den Antrag Partei ein: Sollte es sich tatsächlich um künstlerisch wertvolle Produkte handeln, so müßte man diese Zeitung freilich auf irgend eine Weise unterstützen. Plötzlich unterbrach der Bürgermeister die Diskussion mit dem allenthalben auf Resonanz stoßenden Vorschlag, die Entscheidung dem Kulturausschuß der Stadt Rot zu übertragen. Ihr solle das Urteil obliegen, die Kunstwerke für gut oder schlecht, förderungswürdig oder nicht zu befinden. Nach oben! In aller Frühe des nächsten Tags stand ich im Vorzimmer des Bürgermeisters, unter den Achseln einen Packen Kunstzeitschriften, exakt 22 Exemplare. Diese Menge deckte sich mit der Anzahl der Stadträte. Damit die Kulturausschußmitgleider der Stadt Rot sie überhaupt der Prüfung unterziehen konnten, brauchten sie ja jeder ein Exemplar, wenngleich der Kulturausschuß gewiß weniger als 22 Teilnehmer zählen mochte. Dennoch dachte ich dabei an alle Stadtratsmitglieder. Eine Diskussion aller Parlamentarier über die Kunstzeitschrift sollte den Entscheidungsfindungsprozeß beeinflussen. Ich war so etwas von aufgeregt, bevor ich in das Bürgermeisterzimmer eingelassen wurde, schließlich würde ich meinem Volksschul- und späteren Nachhilfelehrer Angesicht gegen Angesicht gegenüberstehen. Oh, wie gut ich mich noch daran erinnerte, wie ich mich jedesmal freute, wenn er den Unterricht unterbrach, um aus einer phantastischen Kinderlektüre vorzulesen. Die sorgenvollen Tage meiner frühen Jugendzeit im Angesicht der besorgten Mutter, die mich mit für sie schmerzlich abgespartem Haushaltsgeld zu ihm zu Nachhilfestunden drängte, währenddessen mir anderes zu tun viel näher im Sinn lag. Alles das, um gegen den Absturz desjenigen zu kämpfen, der nichts zu werden drohte. Im Grunde befand ich mich heute genau in der selben Zwickmühle. Ich mußte mich anschicken, etwas zu werden, mußte gegen die Hürden desjenigen anrennen, der an den Anfängen meines steinigen Weges dafür wesentlich beteiligt war und der in der Endphase nun sich so vehement dagegen stemmte. Aber endlich Einlaß. Auf der anderen Seite des rustikalen Sekretärs hustete der Bürgermeister bei jedem Wort wie ein Maschinengewehr. Ja, das war's: Bereits während der Nachhilfestunden, zweifelsohne ein sträflich schlechtes Vorbild für einen Heranwachsenden, hatte er schon jedesmal einen dieser Suchtmittel in der linken Hand gehalten, während die andere den Bleistift führte. Dafür mußte er also heutzutage bezahlen. Er gab sich zunächst etwas verbindlich infolge meines kleinen Erfolgs bei der Stadtratsversammlung. Immerhin hatte sie mir ja eine Chance eingeräumt. Als er aber die 22 Exemplare auf dem Tisch aufsetzen sah, hustete er so laut wie ein Kanonenrohr. "Jetzt wollen Sie wohl die nichtverkauften Exemplare ihrer Kunstzeitschrift loswerden?" Immer diese negative Sichtweise der Staatsvertreter gegenüber ihren Untertanen. "Ich lege stets dann erst wieder eine neue Auflage auf, wenn ich die letzte ganz vertrieben habe. Diese Kunstzeitschrift hat immerhin schon 8 Auflagen erlebt!" Wenn er gewußt hätte, daß jede Auflage zuvor oft nur höchstens 20 Exemplare umfaßte... "Aber warum gleich so viele Zeitungen?", lamentierte er mitleidig. Er zählte sie wie ein Krämer einzeln nach. "Sie haben doch 22 Stadträte, wenn ich richtig informiert bin?", erwiderte ich. "Ja schon, aber 20 dürften schon ausreichen!" "Nur 20, obwohl sie 22 Personen sind?" Ich grübelte. Vielleicht konnten zwei von den Räten überhaupt nicht lesen? Nur wer? Bestimmt derjenige, der mir arglistiges Erschwindeln unterstellt hatte. Und um wen handelte es sich wohl bei dem zweiten Fall? Flugs stand ich wieder im Empfangszimmer des Bürgermeisters in den Händen die restlichen zwei Exemplare. Nun wartete ich darauf, daß die Kulturausschußmitglieder zusammentrafen, um zu entscheiden. Es verstrich viel Zeit bis dahin. Unterdessen dampfte es aus irgendwelchen unlokalisierbaren Küchen und zwar recht schwarz. Die Kulturausschußmitglieder fürchteten sich vor einer Entscheidung, denn niemand fühlte sich so recht kompetent, sprich qualifiziert dafür, die Kunstwerke angemessen einzuschätzen. Menschen entscheiden über etwas, was sie hilflos machte; was sie nicht beurteilen konnten - welchen Vorgang sie dann wohl nur mit schlechtem Gewissen tun könnten. Mir wurde klar, ich mußte dabei sein, um ihnen sachgemäße Auskunft zu erteilen; mußte ihnen den Sinn und das Motiv dieses oder jenes Sujets erklären, veranschaulichen, analysieren... So erkundigte ich mich bei der Sekretärin des Bürgermeisters, wann der Ausschuß zusammentreffen würde. Sie nannte mir Zeitpunkt, Ort und Umstand der tagenden Kulturausschußsitzung, nämlich geschlossen am kommenden Mittwochabend. Ich war nicht eingeladen, nein! Aber ich mußte sie durch meine Beraterfunktion entlasten. Ich mußte einfach hin. Es stimmt schon: Du hättest nicht hingehen sollen, höre ich die Stimme manches bedächtigen Menschen sprechen. Doch ging ich nun mal hin. Dann mußtest Du natürlich die Konsequenzen tragen. Ich mußte! Durch die offene Tür des Nebenzimmers zur Bürgermeistersuite trat ich ein. Bekannte Gesichter saßen darin in einem Kreis: Mein Onkel, mein Jugendfreund - und schauten ernst ob der Schwere ihrer Verantwortlichkeit, die sie eigentlich gar nicht tragen konnten. Der Ausschuß fand sich also gerade an jenem schönen, lauen Spätsommerabend zusammen. Es war wirklich die romantischte Atmosphäre für den Entscheidungsmoment für künstlerische Werke, wenn nicht der daneben stehende Herr Bürgermeister Weiß der Stadt Rot dort jetzt ein grauenvolles Froschgesicht verzogen hätte und abrupt auf mich zukam und losquakte: "Sie wissen genau, daß der Kulturausschuß geschlossen tagt. Also, verlassen Sie sofort den Raum. Auf der Stelle!" Was hast Du daraufhin geantwortet? Hast Du ihm die Unabdingbarkeit deiner Anwesenheit dargelegt mit Worten wie: "Aber Sie wissen doch alle nichts mit meiner Kunstzeitschrift anzufangen. Also lassen Sie mir sie erklären, darlegen und verständlich machen wie der Straßenbauingenieur auf der Stadtratsversammlung sein Projekt neulich." Nein, ich hatte einen Frosch im Hals bekommen und war außerstande, mich zu wehren, verbal zu verteidigen, zu argumentieren. Schwächling! Richtig, leider. Mir fehlt noch die Selbstsicherheit künstlerischer Füße, auf glitschigem Parkettboden kommunaler Politik aufrechtzugehen. So verließest Du also ohne viel Gegenrede die Arena? Nein, nicht ganz! Ich unterhielt mich noch mit der Putzfrau im Rathaus über den schönen herbstlichen Altweibersommer. Und wie hat nun der Kulturausschuß entschieden? Wenn ich das heute schon wüßte! Wie bitte? Höre ich recht? Mittlerweile dürften doch schon Jahre vergangen sein. Sicher, sind auch. Da weißt Du heute noch nicht, wie sich das zuständige Gremium entschied. Nein, weiß ich nicht. Außerdem, weißt Du, daß er sich überhaupt entschied. Wie soll ich das verstehen? Wie ich es eben sagte. Hmmm! Nach oben! Ich sitze bei einem heißen Glas Tee in einem Bistro Rots. Es ist nicht lange her, daß ich wie der sprichwörtliche Ewige Jude aus den Räumen jenes Rathauses vertrieben wurde, welche Räte bevölkerten, die immerhin auch von mir dorthinein delegiert worden sind, und die sich auch nicht befleißigt fühlten, einen ihrer Wähler über den Ausgang der Sitzung zu informieren. Was auch ist aus meinen 20 Kulturzeitschriften geworden, ging es mir durch den Kopf. Haben überhaupt die Stadtratsmitglieder sie in die Hand bekommen? Warum habe ich dann aber keine Antwort, keine Reaktion erhalten? Wie aber sind die Zeitschriften denn entsorgt worden? Plötzlich spricht mich ein wohl vertrautes, wenn auch noch niemals mit diesem ein Wort gewechseltes Mädchen an: Die Tochter des Bürgermeisters. Sei ich nicht derjenige, welche diese Zeitung herausgebracht habe? "Bin ich!", antworte ich über diese Bekanntschaft erfreut und wegen dieser in meiner verzweifelten Situation denkbar interessantesten Abwechslung. Mein Vater wäre ja sehr erbost über mich. Warum? Ich hätte mich so ungehörig aufgeführt, hatte dieser gemeint. "Ich hätte mich unmöglich benommen?" Mir verschlägt's beinahe die Stimme. Sie lächelt mich mit dem süßesten Lächeln an, das eine junge Tochter aufbringen mochte, als sie erzählte, wie sie am Mittagstisch dem Vater gegenüber die Sprache auf meine Person gebracht hat. Ihr Vater, der Bürgermeister, hätte sich beim Sonntagstisch dabei verschluckt und wäre beinahe erstickt. Welch ungeheuer überwältigende Vorstellung! Sie lädt mich prompt zu sich ein. Ich gehe mit ihr in ihre Wohnung, ins pompöse Haus des Herrn Bürgermeisters. Es ist bereits zwölf Uhr nachts. Als wir in ihr Zimmer kommen, liegt die Bürgermeistergattin auf dem Sofa. "Ach, gut das du kommst, Evi! Dein Vater und ich waren bei der Oma, und wir haben unsere Schüssel für unsere Wohnung vergessen!" Daraufhin ist sie wieder gegangen. Die ganze Nacht über unterhalte ich mich angeregt mit Evi, mir bewußt, daß ich hier oben mit der Tochter des Bürgermeisters die Nacht verbringe, während er höchstselbst einen Stockwerk tiefer den ruhigen Schlaf des Gerechten schläft, oder, wie ich mir ausmalte, was ich freiherzig gestehe, den angebracht mehr unruhigeren. "Gehst Du mit mir mal Schwimmen. Ich hab niemanden, der mitgeht. Dies wäre schön!" Ich versprach diesem Mädchen in dieser beglückenden Nacht wirklich alles. Ich täuschte mich auch nicht, nein! Obgleich mir die Bürgermeistertochter versicherte, sie wäre mittlerweile aus dem Alter heraus, der Pflicht Genüge leisten zu müssen, am Sonntagmorgen zum Frühstück ihrer Eltern sich einzufinden, klingelt schrill um 7 Uhr morgens die Türglocke. "Komm zum Frühstück herunter!", höre ich die Gemahlin des Bürgermeisters unstandesgemäß barsch heraufrufen. Ich gehe mit der verängstigten und aufgeregten Tochter des Bürgermeisters das Treppenhaus hinunter, langsam, sehr langsam, an der Bürgermeisters Wohnungstür vorbei, eben noch gebührend lange mich verabschiedend. "Also, dann auf Wiedersehen!", artikuliere ich die Abschiedsworte so betont, daß sie hören mochte, daß ich in ihnen alles Gewicht des Ernstes lege, die man in Worte legen konnte. Vor Angst so schnell habe ich allerdings noch kein Mädchen hinter einer Tür verschwinden sehen. Nach oben! |
Impressum © Werner Pentz Design: Sebastian Fischer 2013