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Die Krähen
Erstbegegnungen
Nunmehr, heute, wo sich die Krähen derartig epidemisch
ausbreiten, jeder zweite Artgenosse, der mir begegnet,
schon so schwarz und undurchdringlich düster erscheint,
erinnere ich mich an das erste Mal, wo ich ihnen begegnet
bin. Ein Mädchen hatte es mir angetan und obwohl ich solch
gesellschaftlichen Verpflichtungen sehr abgeneigt
gegenüber gestellt war und bin, leistete ich ihr Folge,
als sie mich auch mit ihrer Familie bekannt machen wollte,
die ihr so wichtig war, nämlich in einem Grade, dass man
sagen konnte: so wichtig, wie sie sich selbst nahm. "Eine
Krähe hackt der anderen kein Auge aus", tönte mir die
Begrüßung ihrer Mutter entgegen, voran die gereichte Hand,
und momentan konnte ich auch keinen Grund entdecken, ihr
nicht auch meine entgegen zu strecken. Wie naiv ich doch
noch war, ja, jung und dumm, wie man so sagt. Diese
Gesellschaft bestand außer den Eltern zudem noch von
Gästen, so dass sich zwei Parteien gegenüber saßen:
Freundin und Eltern hier, die bestrebt waren, mich
kennenzulernen und etwas abseits meines Interesses die
geladenen Gäste dort. Diese außerfamiliäre Partei, die
zweite nun, versuchte mich aber bald auch in ihren Bund
einzubeziehen, indem sie sich nach einiger Zeit
versteckter eingehender Prüfung einig geworden war darin:
Dich kennen wir doch auch! Ich merkte, dass mir dies nun
unangenehm war, im Gegensatz zur Mutter, die lächelte und
lächelte, sogar jetzt strahlte, und es war mir unmöglich,
diese Leute da richtig zu akzeptieren (der Leutebegriff
erinnert an gewöhnliche Menschen). Davon abgesehen war die
Aussage, dass ich ihnen bekannt sei, höchst
unwahrscheinlich. Es war unglaubwürdig, dass ich mit
diesen je, ja nur einen Gruß ausgetauscht hatte, gar, dass
diese mir überhaupt über den Weg gelaufen waren oder ich
ihnen, mochte ich sie auch nicht registriert haben. Es lag
in dieser Aussage ein Bestreben darinnen, mich zu
Ihresgleichen zu machen, gegen das ich mich mit allen
Fasern meines Körpers verwehrte. Zwar haben wir uns noch
nicht gesehen, aber du gehörst auch zu uns. Ihre
Feststellung beschwor einen unsichtbaren Bann und Kreis
herauf, der mich in ihre verschwörerische Clique
einbeziehen sollte und zu welchem Zweck und Ziel auch
immer gebildet, es bereitete mir äußerstes Unbehagen. Mein
Freiheitsgefühl zu dieser Zeit verband sich nicht mit der
Mitgliedschaft in einer wie auch immer gearteten
Gesellschaft. Es erregte meinen Widerstand und Abscheu.
Nein, ich gehöre nicht zu euch, rief es mir und mein
Körper richtete sich zur Abwehr auf. Mir wurde heiß wie in
einer Sauna; unmerklich griff ich zu meiner Krawatte, um
sie zurechtzuschieben und zu lüften. Bei den Eltern meiner
Freundin hatte ich mir ja diese Besitznahme noch gefallen
lassen, aber hier, bei diesen grauen, dunklen, schwarzen
Eminenzen? Nein, Eminenzen waren es nicht, sondern Brüder,
Kumpels, Skat- und Schafkopf-, kurzum Kartellbrüder,
Komplizen, Partner dunkler Geschäfte und Ahnungen,
Polizeispitzel und Ganovenmitglieder; aber auch
Schafsköpfe, Feiglinge, Denunzianten, Pokergesichter,
Hitleristen und Verdammte, an deren Hände Blut klebte und
in deren Innereien die mannigfaltigsten Würmer sich
zehrten und mehrten, kurzum der metaphysische Ekel war
unweigerlich da; vor was auch immer, ich war
augenblicklich auf der Hut. Was willst du einmal werden?
Aber doch, wenn ich länger darüber nachdenke, merke ich,
dass es schon viel früher anfing. Es begann im Grunde
bereits damit, dass die Erwachsenen dich fragten, der du
ein Grünschnabel, Neuankömmling und
Erst-sich-Bewährenmüssender warst: Und, was willst du
eigentlich einmal werden? Oft beobachte ich dies heute bei
Gleichaltrigen und sehe sie vor mir, die von den großen
Menschen, den Erwachsenen um die Hüften gefasst, dann in
die Höhe gehoben, mit besonderem Respekt vor das Gesicht
gehalten und gefragt werden: 'Welcher Beruf gefällt dir
denn am besten?' Merkwürdigerweise berührte mich es nicht,
dass i c h danach n i e m a l s gefragt worden war. Heute
erstaunt es mich sehr. Noch mehr aber versetzt es mich ins
Nachdenken, weswegen ich mich niemals deswegen, dass ich
nicht gefragt worden bin, benachteiligt gefühlt habe? Wie
abgrundtief hasste ich diese Frage, eine Standardfloskel,
die unweigerlich, schien's, je dümmer, desto früher aus
dem Munde desjenigen kam, dem man auf der Straße zufällig
begegnete oder auf einer Gesellschaft Fremder - die meist
dann ausgesprochen wurde, wenn die Verlegenheit unter den
Erwachsenen offensichtlich und unumgehbar war: Was willst
du einmal werden? In den langen Nächten, in der
Dunkelheit, da lag ich doch wach und überlegte, wie diese
Krähenburgen, -felder und 'nester denn aussehen, wo man zu
etwas erzogen wurde, dass man danach sagen konnte, ich bin
Metzger, Lehrer, Pfarrer oder sonst etwas Bedeutungsvolles
geworden? Diese Frage quält den Sprössling. Wie gelange
ich dahin? Wer lässt mich da hinein? Welche Prüfungen,
Hürden und Personen muss ich passieren? Ein ständiges,
wenn auch unbewusstes Fragen keimt, schwelt und sprießt in
des Kindes Brust. Wenn man etwas werden will, etwas
geworden ist, dann musste man in diese Burgen, Feldern
oder Nester wie selbstverständlich aus- und eingehen. Dort
ging man einem Beruf nach, verdiente man Geld, gehörte man
dazu. Aber ich gehörte nicht dazu. Ich sollte niemals dazu
gehören. Doch so leicht war es nicht, sich dafür zu
qualifizieren. Andere, scheinbar damit nicht im
Zusammenhang stehende Hürden wurden bereits weitaus früher
aufgerichtet. Diese zu überwinden, bedeutete die
Eintrittskarte ins Stadion der Erwachsenen. Ich sage es
gleich, ich überwand sie nicht. Es hinderte mich etwas
daran gleich dem geschilderten Vorfall, die erste bewusste
Begegnung mit den Krähen überhaupt, wo diese sich erstmals
als solche offenbarten und zu erkennen gaben, indem sie
wortwörtlich sagten: eine Krähe hackt der anderen kein
Auge aus. Was aber hinderte mich daran? Lassen sie mich
diese unsichtbaren Hürden der frühesten Kindheit
schildern, sowie ich es vermag. Die erste Person, die wohl
einem in diese unsichtbaren, bedeutenden und
überlebensnotwendigen Bezirken der Krähe einlässt oder
nicht, scheinen die Krähen-Schlechthin zu sein.
Diejenigen, die da alle gleich aussehen, akkurat angezogen
und mehr als andere aufrecht daherstolzieren. Von denen
wird man als erstes angesprochen, darauf gestoßen, was
Sache und Ernst ist, außer der bekannten Verwandtschaft
und Familie natürlich, wozu ich noch kommen muss. Ich sehe
mich als kleiner Junge mit dem ersten Rad wacklig die
Straßen entlang fahren, torkelnd, mutig und tollkühn. Das
wird das erste Mal sein, dass ich mit dem Fahrrad in die
Schule fahren werde. Was würde das für ein tolles Gefühl
sein, mit diesem in den Pausenhof durch das große Tor
hineinzuschießen, wo andere Kinder drinnen standen, um auf
den Glockenton zu warten. Ich war ja ein Nichts,
unbekannt, weil zu den Kleinen zählend, die erst gerade in
diese Krähenfabrik eingelassen worden waren, aber durch
diese Tat würde ich die erste Aufmerksamkeit auf mich
lenken. Der erste Schritt zur richtigen Qualifikation!
Dazu musste ich den Talübergang überqueren, ein größerer
Wiesengrund, wodurch der mittelgroße Fluss der Stadt
floss, ein kleiner brauner Bach. Der Wiesengrund wird
links und rechts begrenzt von für meine kleinen
Verhältnisse imposante Hügel, welche hinunterzufahren ein
beschwingendes Abenteuer darstellt. Ein sich weithin
ausstreckender Wiesengrund wird das, was vor mir sich
ausbreitet, bereits als Tal bezeichnet, was in bergigen
Gegenden nur Schmunzeln hervorrufen würde. Aber es geht
steil hinab, sehr steil. Zudem war nicht zu erkennen, da
ein kleines Haus an der Kurve stand, wohin und wie die
Straße weiterführte, noch ob die Kurve derartig winklig
und spitz sich krümmte, dass ich vielleicht mit meinem
noch wackligen Fahren aus dieser geriet, die Kurve nicht
packte, wie man das mundartlich hieß. Ich würde mit einem
Karacho in einem Graben landen oder in den dreckigen,
braunen Fluss stoßen. Was soll's, ich war stark, mutig,
sprich kein Feigling. Das bewies ich. Ich steuerte auf das
in der Talsenke liegende kleine, fränkische Fachwerkhaus
zu, wodrinnen eine ältere, dicke von ihrer Fettleibigkeit
keuchende Person hauste, so dass es wie ein Hexenhäuschen
aus dem Märchen von Hänsel und Gretel entsprungen schien.
Es war allenthalben gesäumt und umstanden von mächtigen,
hohen Platanen. Gegen und in das Hexenhäuschen mit dem
Fahrrad zu rauschen war ein geringes Risiko, jedoch aber
gegen die unzurechnenden, dicken Baumstämme dahinter ein
größeres. Es war von hier oben nicht auszumachen, wo sie
überall platziert waren. Aber mit ihren Blättergeräuschen
verursachten sie ein Getöse und eine Bewegung, die
beängstigend wirkte, denn wer sich bewegte, konnte sich
stoßen, sich verletzen, mit anderen zusammengeraten' es
bedeutete Gefahr. Es wirkte also so schön bedrohlich.
Endlich würde es einmal brisant werden; endlich war
Spannung da. Also weiter! In die Pedale treten. Aber noch
bevor ich erkunden konnte, was nach dem Haus auf mich
wartete, wurde ich schon daran gehindert. - Wer verleitet
dem kleinen Jungen seine beschwingte Freiheit: eine
Krähe-Schlechthin. - In einem Ton spricht er mich an, der
ungewöhnlich, bedeutungsvoll und nach Krähenwelt klingt.
Zudem überraschend. Steig doch mal ab!, sagt er
herrschaftsgebietend. Wer ich? Sich doof zu stellen, ist
ja immer gut, wenn jemand etwas von einem wollte, wo man
ahnte, dass man ihm das aus gutem Grunde nicht bereit war
zu geben. Ja, du!, kurzangebunden. Mit dem war nicht gut
Kirschen essen, das merkte ich sofort. Ich gehorchte
demnach auch gleich. Was zu erwarten war, trat ein. Der
unerfahrene Junge glaubte, dass ihm bei diesem ersten Mal
noch Glück winkte, wobei es sich doch um kaltes,
abgewogenes Kalkül handelte, als ihm nicht ein Verbot
ausgesprochen wurde, sondern ein Rat, gleichsam wie eine
Einladung klingend. Fahr nicht über den Talübergang mit
deinem Fahrrad. Steig lieber ab. Die Begründung erfolgte
auch. Ist gut!, gehorchte ich zuletzt willig. Ich wusste,
wenn ich das nächste Mal hierherkam, war er doch nicht da,
und ich konnte wieder ungehindert die Überquerung
passieren. Außerdem war ich heilfroh, mit einem blauen
Auge davon gekommen zu sein, dachte nicht im entferntesten
daran und kannte es auch nicht besser, als dass dies stets
dieselbe Strategie der Krähen darstellte, wie hier im
Kindesalter so auch später: Täuschung, das Gefühl
vermitteln, dass Gnade vor Recht gewährt worden war, so
dass man den Krähen-Schlechthin dankbar sein musste, wenn
nicht gar bei entsprechender Gelegenheit diese Dankbarkeit
durch irgendeine klare Tat vergolten gehörte. So wurde man
an ihren Gängelbänden gehalten und nach Belieben hierhin
oder dorthin dirigiert. Ich bin schon etwas älter, im
fortgeschrittenerem Kindesalter, noch kein dreister und
intelligenter Jugendlicher, der deren Machenschaften
durchschaute, sondern gleichsam noch ein unschuldiges,
naives Kind, zwar schon sogenannter Lausbub, Bengel und
Frecker, aber noch hänge ich an der Mutter Rockzipfel und
des Vaters drohende Hand. Wirklich, nicht mal über meinen
eigenen Suppenteller kann ich hinausschauen, als Krähe
erneut auf mich zutritt. Nicht etwa, weil ich ein Verbot
übertreten habe, sondern weil es ein anderer, andere getan
haben. Über andere Menschen zu berichten, fordert mich die
Krähe-Schlechthin auf. Dass man diesen anderen Menschen
damit nichts Gutes erweist, fühlt man. Trotzdem wird man
damit selbst einen Gewinn erzielen, ahnt man. - So wird
man hier schon entscheiden müssen, in früherster Kindheit,
wirst du einmal eine Krähe oder ein Mensch werden! Willst
du Mensch bleiben, wofür du dich entschieden hast, so wird
das nächste Mal einer dieser Krähen-Schlechthin dich nicht
mehr so freundlich und vertraulich behandeln, sondern,
egal, was er von dir will, zum Ausdruck bringen: du bist
keine Krähe! Zwar ist damit das Urteil noch nicht
gesprochen, noch kannst du dich besinnen, umkehren, dich
wandeln; diese Chance offeriert dir die Krähe-Schlechthin
immer noch. Aber die Zeichen stehen ungünstig. Der Druck
wird verstärkt. Das nächste Mal, wo er dir über den Weg
läuft, wird dir Krähe-Schlechthin nicht mehr besonders
freundlich begegnen, sprich bittend und schulterklopfend
Du-machst- das-schon,
weil-du-eine-gute-Krähe-werden-willst, nein, er wird dir
eher das Gefühl vermitteln: Hunde-an-die-Leine, wobei du
sowohl das eine als auch das andere bist, nämlich
dasjenige für denjenigen, Leine für den Hund, Hund für die
Leine, jedenfalls fühlst du dich von der Krähenwelt zum
ersten Mal von der wirklichen Welt abgekapselt,
ausgeklinkt und aus ihr herausgewiesen, sprich
richtiggehend ausgeschlossen. Das Krähenparadies wird ab
jetzt schwieriger zu finden sein, der Weg Zurück ist, wenn
nicht verbaut, so doch verschüttet.
Nach oben!
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